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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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wiedererkannte. Ich blieb einen Moment lang auf dem Bürgersteig stehen und überlegte, ob ich einen Passanten nach dem Weg fragen sollte. Es war ja immerhin denkbar, daß Miss Collins in der Stadt hinreichend bekannt war, so daß ich damit Erfolg haben könnte. Und tatsächlich wollte ich gerade einen Mann im Straßenanzug ansprechen, der mir entgegenkam, als ich fühlte, wie mich jemand von hinten an der Schulter berührte.
    »Guten Morgen, Mr. Ryder.«
    Ich drehte mich um und sah Gustav, der einen riesigen Pappkarton trug, dessen Ausmaße seine obere Körperhälfte praktisch verdeckten. Er keuchte heftig, aber ob das allein durch seine schwere Last kam oder durch die Tatsache, daß er mir hinterhergelaufen war, konnte ich nicht sagen. Als ich ihn begrüßt und gefragt hatte, wohin er denn wolle, dauerte es jedenfalls eine Weile, bevor er antworten konnte.
    »Ach, ich wollte das hier gerade zum Konzertsaal bringen«, erwiderte er schließlich. »Die größeren Teile sind alle schon gestern abend im Lastwagen hingebracht worden, aber immer noch sind da so viele Dinge, die sie brauchen. Schon seit dem frühen Morgen gehe ich andauernd zwischen Hotel und Konzertsaal hin und her. Die sind da alle ganz schön aufgeregt, das kann ich Ihnen sagen. Da ist schon richtig Stimmung aufgekommen.«
    »Das freut mich zu hören«, sagte ich. »Auch ich freue mich schon sehr auf den Abend. Aber ich frage mich, ob Sie mir nicht vielleicht behilflich sein können. Sehen Sie, ich bin heute vormittag mit Miss Collins in ihrer Wohnung verabredet, aber ich bin wohl ein wenig vom Weg abgekommen.«
    »Miss Collins? Na, da haben Sie es gar nicht mehr weit. Hier geht es lang, Mr. Ryder. Ich begleite Sie, wenn Sie erlauben. O nein, kein Grund zur Sorge, es liegt direkt auf meinem Weg.«
    Sein Karton war vielleicht doch nicht so schwer, wie er aussah, denn als wir erst einmal in Gang gekommen waren, hielt Gustav neben mir beständig Schritt.
    »Ich bin sehr froh, daß wir uns hier so ganz zufällig über den Weg gelaufen sind, Mr. Ryder«, fuhr er fort, »denn um ganz ehrlich zu sein, da gibt es etwas, über das ich mit Ihnen hatte sprechen wollen. Tatsächlich hatte ich mit Ihnen darüber schon bei Ihrer Ankunft sprechen wollen, aber irgendwie kam eines zum anderen, und ich habe es einfach nicht geschafft. Und jetzt ist dieser besondere Abend schon so nah, und ich habe Sie immer noch nicht gefragt. Es ist bloß etwas, das vor ein paar Wochen im Ungarischen Café bei einer unserer sonntäglichen Versammlungen aufkam. Das war kurz nachdem wir gehört hatten, daß Sie zu uns in die Stadt kommen, und wie alle anderen haben natürlich auch wir darüber gesprochen. Und einer, ich glaube, es war Gianni, erzählte, er habe gelesen, daß Sie ein höchst patenter Kerl seien, das glatte Gegenteil von diesen Primadonna-Typen, und daß Sie in dem Ruf stünden, sich sehr für die Belange der einfachen Leute zu interessieren, das hat er alles erzählt. Und da saßen wir nun an unserem Tisch, wir waren zu acht oder neunt, Josef war an dem Abend nicht da, wir haben die Sonne über dem Platz untergehen sehen, und ich glaube, wir haben alle zur selben Zeit denselben Gedanken gehabt. Zuerst haben wir alle nur schweigend dagesessen, keiner hat sich getraut, es laut auszusprechen. Schließlich war es Karl, typisch, Karl war es mal wieder, der gesagt hat, was wir alle dachten. ›Warum fragen wir ihn denn nicht einfach?‹ hat er gesagt. ›Was haben wir denn zu verlieren? Fragen sollten wir ihn wenigstens. Er scheint das glatte Gegenteil von diesem anderen zu sein. Womöglich ist er sogar einverstanden, das kann man nie wissen. Warum fragen wir ihn denn nicht einfach, es könnte unsere letzte Chance sein.‹ Und dann haben wir alle immer wieder nur darüber geredet, also, Mr. Ryder, um Ihnen die Wahrheit zu sagen, haben wir nie lange zusammensitzen können, ohne daß wir das Thema zur Sprache gebracht hätten. So reden wir vielleicht über irgend etwas ganz anderes und lachen zusammen, und dann senkt sich auf einmal dieses Schweigen über uns, und uns wird klar, daß wir alle wieder daran gedacht haben. Deshalb hatte ich schon allmählich ziemliches Mitleid mit mir. Ich dachte, ich habe Sie jetzt ein paarmal gesehen, ich hatte die Ehre, mit Ihnen sprechen zu dürfen, und doch habe ich mir nie ein Herz fassen und Sie fragen können. Und da sind wir nun, bis zu dem großen Ereignis sind es nur noch ein paar Stunden, und ich habe immer noch nicht gefragt. Wie sollte

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