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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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und ich an jenem Abend gewartet hatten. Doch dann stellte ich fest, daß ich vor einem deutlich vertrauten Eingang stehengeblieben war, und nach einer Weile ging ich darauf zu und schaute durch die Glasscheiben zu beiden Seiten der Tür.
    Der Flur war auf eine ordentliche, irgendwie unauffällige Art möbliert, und fast nichts davon kam mir bekannt vor. Dann fiel mir ein, wie ich an dem Abend neulich beobachtet hatte, daß sich Stephan und Miss Collins erst eine Weile in dem Salon nach vorne heraus unterhalten hatten, bevor sie weiter nach hinten gegangen waren, und auf die Gefahr hin, für einen Eindringling gehalten zu werden, schwang ich ein Bein über die niedrige Mauer und beugte mich vor, um durch das mir am nächsten gelegene Fenster zu schauen. Das helle Sonnenlicht machte es mir schwer hineinzusehen, doch ich konnte einen kleinen, stämmigen Mann in weißem Hemd und mit Krawatte erkennen, der allein in einem Sessel saß, das Gesicht mehr oder weniger direkt zum Fenster gewandt. Seine Augen schienen auf mich gerichtet zu sein, doch sein Blick war leer, und es ließ sich keineswegs sagen, ob er mich überhaupt wahrgenommen hatte oder einfach nur gedankenverloren aus dem Fenster starrte. Das alles sagte mir wenig, aber als ich das Bein wieder über die Mauer zurückschwang und noch einmal zu der Tür hinschaute, war ich überzeugt davon, daß es die richtige war, und klingelte an der Tür zur Erdgeschoßwohnung.
    Voller Genugtuung sah ich einen Moment später durch die Glasscheiben, daß sich die Gestalt von Miss Collins auf mich zubewegte.
    »Ach, Mr. Ryder«, sagte sie, als sie die Tür öffnete. »Ich habe mich schon gefragt, ob Sie heute vormittag tatsächlich kommen würden.«
    »Guten Tag, Miss Collins. Nach einiger Überlegung habe ich beschlossen, Ihr freundliches Angebot anzunehmen und Sie zu besuchen. Aber wie ich sehe, haben Sie heute vormittag bereits einen Gast.« Ich deutete zu dem nach vorn hinausgehenden Salon. »Vielleicht wäre es Ihnen lieber, ich komme später noch einmal vorbei.«
    »Das kommt gar nicht in Frage, daß Sie wieder weggehen, Mr. Ryder. Wenn Sie auch andeuten, ich hätte sehr viel zu tun, ist es doch verglichen mit anderen Vormittagen heute recht ruhig hier. Wie Sie sehen, wartet da nur einer. Im Moment ist ein junges Paar bei mir. Ich spreche schon seit einer Stunde mit den beiden, aber sie haben so gravierende Probleme, sie müssen über so vieles reden, und bis heute konnten sie das nicht, deshalb habe ich nicht das Herz, sie zur Eile zu drängen. Aber wenn Sie so freundlich wären, hier vorne ein wenig zu warten, es dauert jetzt bestimmt nicht mehr lange.« Dann senkte sie plötzlich die Stimme und sagte: »Der Herr, der da jetzt wartet, ist ein armer Mann, er ist einsam und unglücklich und braucht einfach nur jemanden, der ihm ein paar Minuten zuhört und das bestätigt, das ist schon alles. Er wird nicht lange bleiben, ich werde ihn schnell wieder wegschicken. Er kommt praktisch jeden Vormittag, es macht ihm nichts aus, dann und wann hastig abgefertigt zu werden, ich widme ihm ja sonst genug Zeit.« Dann fuhr sie wieder ganz normal fort: »Bitte kommen Sie doch herein, Mr. Ryder, Sie brauchen doch nicht da draußen stehenzubleiben, auch wenn es heute, wie ich sehe, ein sehr schöner Tag ist. Wenn Sie möchten und wenn dann niemand mehr wartet, können wir ja etwas im Sternberg-Park spazierengehen. Das ist ganz in der Nähe, und ich bin sicher, wir haben viel zu besprechen. Tatsächlich habe ich über Ihre Situation schon recht viel nachgedacht.«
    »Wie freundlich von Ihnen, Miss Collins. Ich habe mir übrigens gedacht, daß Sie heute vormittag sehr beschäftigt sein würden, und ich wäre hier bei Ihnen auch gar nicht so hereingeplatzt, wenn die Angelegenheit nicht von einiger Dringlichkeit wäre. Sehen Sie, Tatsache ist« – ich seufzte schwer und schüttelte den Kopf -, »Tatsache ist, daß ich aus dem einen oder anderen Grund nicht in der Lage gewesen bin, die Dinge auf die ursprünglich beabsichtigte Art und Weise zu erledigen, und, tja, da wären wir nun, die Zeit vergeht und … Na ja, zunächst einmal muß ich, wie Sie ja wissen, heute abend vor den Leuten hier eine Rede halten, und um Ihnen gegenüber ganz ehrlich zu sein, Miss Collins...« Beinahe wäre ich ganz steckengeblieben, aber dann sah ich, daß sie mich mit freundlichem Blick anschaute, und ich riß mich zusammen und fuhr fort. »Um ganz ehrlich zu sein, da gibt es eine Reihe von Problemen, hiesigen

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