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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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Parkhurst als auch ich bewegten uns zum Fenster.
    »Da geht er«, sagte Parkhurst, die Stirn gegen die Scheibe gepreßt. »Machen Sie sich keine Sorgen, Miss Collins, der kommt bestimmt nicht wieder.«
    Miss Collins schien nicht zugehört zu haben. Sie ging auf die Tür zu, dann drehte sie sich wieder um.
    »Bitte entschuldigen Sie mich, ich muß… ich muß…« Wie im Traum ging sie zum Fenster und sah hinaus. »Bitte, ich muß… Sehen Sie, ich hoffe, Sie verstehen...«
    Sie sprach keinen von uns direkt an. Dann schien sich ihre Verwirrung aufzuklären, und sie sagte: »Mr. Parkhurst, Sie hatten nicht das Recht, so mit Leo zu sprechen. Er hat während des vergangenen Jahres enormen Mut bewiesen.« Sie warf Parkhurst einen durchdringenden Blick zu, dann lief sie aus dem Zimmer. Einen Moment später hörten wir, wie die Tür erneut zugeschlagen wurde.
    Ich stand immer noch am Fenster und sah die Gestalt von Miss Collins die Straße hinuntereilen. Sie hatte Brodsky entdeckt, der schon ein gutes Stück voraus war, und im nächsten Moment fiel sie in eine Art Trab, weil sie sich vielleicht die Demütigung ersparen wollte, ihn rufen zu müssen, damit er auf sie warten würde. Doch mit seinem merkwürdigen, vornübergeneigten Gang behielt Brodsky eine überraschend flotte Geschwindigkeit bei. Offensichtlich war er sehr erregt, und es schien ihm tatsächlich nicht in den Sinn gekommen zu sein, daß sie ihm folgen könne.
    Miss Collins, deren Atem jetzt mühsamer ging, lief ihm an den Wohnblocks entlang hinterher, dann an den Geschäften am oberen Ende der Straße vorbei, ohne die Entfernung nennenswert verringern zu können. Brodsky lief immer weiter und bog dann um die Ecke, an der ich mich kurz vorher von Gustav getrennt hatte, und schließlich ging er an den italienischen Cafés auf der breiten Hauptstraße vorbei. Auf der Straße drängten sich noch mehr Passanten als zu dem Zeitpunkt, als ich mit Gustav dort entlanggegangen war, doch Brodsky schritt aus, ohne aufzuschauen, so daß er mehr als einmal beinahe mit Leuten zusammenstieß, die ihm entgegenkamen.
    Als sich Brodsky dann dem Fußgängerüberweg näherte, sah Miss Collins offenbar ein, daß sie keine Chance hatte, ihn einzuholen. Sie blieb stehen und legte die Hände vor den Mund, schien sich dann aber in einem letzten Dilemma gefangen zu sehen, vielleicht überlegte sie, ob sie ihn nun »Leo« nennen sollte oder weiterhin »Mr. Brodsky«. Zweifellos führte ihr eine Art Instinkt die Dringlichkeit der Situation vor Augen, in der sie sich inzwischen befanden, denn sie rief: »Leo! Leo! Leo! Warte bitte!«
    Mit einem erstaunten Gesichtsausdruck drehte sich Brodsky um, während Miss Collins schnell auf ihn zukam. Sie hielt immer noch den Blumenstrauß in der Hand, und in seiner Verwirrung streckte Brodsky beide Hände aus, als biete er ihr an, sie von dem Strauß zu befreien. Doch Miss Collins gab die Blumen nicht her, und obwohl sie ganz außer Atem war, klang sie sehr ruhig, als sie sagte: »Bitte, Mr. Brodsky. Bitte warten Sie.«
    Verlegen standen sie eine Weile da, und beide wurden sich plötzlich all der Passanten um sie herum bewußt, von denen viele angefangen hatten, zu ihnen herüberzuschauen, wobei einige ihre Neugier kaum verbargen. Dann deutete Miss Collins zurück in die Richtung ihrer Wohnung und sagte: »Um diese Jahreszeit ist der Sternberg-Park besonders schön. Wieso gehen wir nicht einfach hin und unterhalten uns dort?«
    Sie gingen los, und immer mehr Leute schauten jetzt in ihre Richtung, Miss Collins ging Brodsky ein oder zwei Schritte voraus, und beide waren dankbar für diesen guten Grund, ihre Unterhaltung aufzuschieben, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. Sie bogen erneut um die Ecke und gelangten wieder auf ihre Straße, und bald schon passierten sie wiederum die Wohnblocks. Nur etwa einen Block von ihrer Wohnung entfernt blieb Miss Collins vor einem kleinen, diskret ein Stück weit vom Bürgersteig versteckten Eisentor stehen.
    Sie griff nach der Klinke, hielt jedoch einen Moment lang inne, ehe sie das Tor öffnete. Da wurde mir bewußt, daß das kleine Stück Weges, das sie gerade gemeinsam zurückgelegt hatten, die schlichte Tatsache, daß sie jetzt Seite an Seite vor dem Eingang zum Sternberg-Park standen, für sie eine Bedeutung haben mußte, die weit hinausging über alles, was Brodsky in diesem Augenblick vermuten mochte. Denn diesen Fußweg, vom Gedränge der Hauptstraße bis zu dem kleinen Eisentor, hatte sie in ihrer Phantasie

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