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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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Leute brauchen meinen Rat heute vormittag dringender denn je, und Sie bringen hier alles durcheinander. Das ist unsere letzte Unterhaltung. Es war ein Fehler, daß ich Sie gestern im Zoo getroffen habe.«
    »Der Friedhof.« Plötzlich lag ein verzweifelter Klang in seiner Stimme. »Du mußt dich heute nachmittag mit mir treffen. Na schön, ich habe nicht nachgedacht, all die toten Leute, ich habe nicht nachgedacht. Aber ich habe das doch erklärt. Wir müssen unbedingt miteinander reden, noch vor... noch vor heute abend. Wie sonst könnte ich? Wie könnte ich es sonst schaffen? Siehst du denn nicht, wie wichtig dieser Abend für mich ist? Wir müssen reden, du mußt dich unbedingt mit mir treffen...«
    »Also hören Sie mal.« Parkhurst trat vor und starrte Brodsky an. »Sie haben doch gehört, was Miss Collins gesagt hat. Sie hat Sie gebeten, ihre Wohnung zu verlassen. Sie sollen ihr aus den Augen gehen, aus ihrem Leben verschwinden. Sie ist zu höflich, das zu sagen, also sage ich es in ihrem Namen. Nach allem, was Sie sich geleistet haben, steht es Ihnen nicht zu, steht es Ihnen einfach nicht zu, solch eine Bitte vorzubringen. Wie können Sie dastehen und um ein Treffen bitten, als wären all diese Dinge nie vorgefallen? Jetzt werden Sie vielleicht vorgeben, zu betrunken gewesen zu sein, um sich zu erinnern. Na, dann werde ich Ihr Gedächtnis eben auffrischen. Vor nicht allzu langer Zeit haben Sie da draußen auf der Straße gestanden und gegen die Wand dieses Hauses uriniert und dabei genau vor diesem Fenster obszöne Sachen geschrien. Die Polizei hat Sie schließlich abgeführt, hat Sie weggezerrt, während Sie die größten Gemeinheiten über Miss Collins herausgeschrien haben. Das ist jetzt noch nicht einmal ein Jahr her. Wahrscheinlich rechnen Sie damit, daß Miss Collins das inzwischen vergessen hat. Aber glauben Sie mir, das war nur einer von vielen ähnlichen Zwischenfällen. Und was nun Ihre Äußerungen über Kleidungsfragen angeht – waren Sie es nicht, den man vor knapp drei Jahren bewußtlos im Volksgarten gefunden hat, in Kleidung, auf die Sie sich mehrfach übergeben hatten? Und waren Sie es nicht, den man dann in die Dreifaltigkeitskirche brachte, wo man feststellte, daß Ihr ganzer Körper von Läusen übersät war? Erwarten Sie ernsthaft, Miss Collins könne es interessieren, was so jemand über ihren Geschmack in Kleidungsfragen zu sagen hat? Sehen wir den Tatsachen doch ins Auge, Mr. Brodsky, wenn ein Mann erst einmal so tief gefallen ist wie Sie, dann ist seine Lage hoffnungslos. Niemals, nie im Leben werden Sie die Liebe einer Frau zurückgewinnen, das kann ich Ihnen mit einigem Nachdruck versichern. Nicht einmal ihren Respekt werden Sie sich zurückerobern. Ihr Mitleid vielleicht, aber mehr auch nicht. Dirigent! Denken Sie denn wirklich, diese Stadt wird in Ihnen je etwas anderes sehen als einen verabscheuungswürdigen, völlig heruntergekommenen Mann? Lassen Sie mich Ihr Gedächtnis weiter auffrischen, Mr. Brodsky, vor vier, vielleicht auch vor fünf Jahren haben Sie Miss Collins in der Nähe vom Bahnhofsplatz tätlich angegriffen, und wenn die zwei Studenten nicht gewesen wären, die gerade vorbeigingen, hätten Sie sie ganz bestimmt ernstlich verletzt. Und die ganze Zeit, während Sie versucht haben, nach ihr zu schlagen, haben Sie ständig gebrüllt und nur die gemeinsten...«
    »Nein, nein, nein!« schrie Brodsky plötzlich, schüttelte den Kopf und hielt sich die Ohren zu.
    »Sie haben die gemeinsten Obszönitäten herausgebrüllt. Sexueller und anderer Art. Es sind Stimmen laut geworden, die forderten, daß Sie dafür eingesperrt werden sollten. Dann war da natürlich noch der Vorfall bei dem Telefonhäuschen in der Tillgasse...«
    »Nein, nein!«
    Brodsky packte Parkhurst am Revers, was letzteren veranlaßte, ängstlich zurückzuweichen. Doch Brodsky ließ keinen weiteren Angriff folgen, sondern hielt einfach nur Parkhursts Revers umklammert, als wäre es eine Rettungsleine. Während der nächsten paar Sekunden versuchte Parkhurst, Brodskys Finger abzuschütteln. Als ihm das schließlich gelang, schien Brodsky völlig in sich zusammenzusinken. Der alte Mann schloß die Augen und seufzte, dann drehte er sich um und verließ den Raum, ohne noch ein einziges Wort zu sagen.
    Zunächst standen wir drei still da und wußten nicht genau, was wir als nächstes sagen oder tun sollten. Dann hörten wir, wie Brodsky die Vordertür zuschlug, was uns aus unserer Reglosigkeit riß, und sowohl

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