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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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nicht wieder du zu mir sagen?«
    »Na schön, Leo. Nein, du magst es wilder. Aber siehst du, nur durch sorgfältige Kontrolle und Planung können einige Pflanzenarten überhaupt überleben.«
    Ernst betrachtete Brodsky das Blatt, das Miss Collins berührte. Dann sagte er: »Weißt du noch? Sonntags vormittags, wenn wir zusammen im Praga unseren Kaffee getrunken hatten, sind wir doch immer in diese Buchhandlung gegangen. Weißt du noch? All diese alten Bücher, und alles so vollgepackt und verstaubt, wohin man sich auch drehte. Weißt du noch? Du bist immer so ungeduldig geworden. Aber wir sind trotzdem hingegangen, immer am Sonntagvormittag, wenn wir im Praga unseren Kaffee getrunken hatten.«
    Miss Collins schwieg einen Augenblick. Dann lachte sie fröhlich und schlenderte weiter. »Der Kaulquappen-Mensch«, sagte sie.
    Brodsky lächelte. »Der Kaulquappen-Mensch«, wiederholte er und nickte. »Ja, stimmt. Wenn wir jetzt zurückgingen, wäre er vielleicht immer noch da, hinter seinem Tisch. Der Kaulquappen-Mensch. Haben wir ihn je nach seinem Namen gefragt? Er ist immer so höflich zu uns gewesen. Obwohl wir nie etwas bei ihm gekauft haben.«
    »Außer an dem Vormittag, als er uns so angeschrien hat.«
    »Er hat uns angeschrien? Das weiß ich gar nicht mehr. Der Kaulquappen-Mensch ist doch immer so höflich gewesen. Und wir haben nie etwas bei ihm gekauft.«
    »O doch. Einmal sind wir reingegangen, es hatte geregnet, und wir haben uns große Mühe gegeben, kein Wasser auf seine Bücher zu spritzen, wir haben im Eingang unsere Mäntel ausgeschüttelt, und trotzdem hatte er so schlechte Laune an dem Vormittag und hat uns angeschrien. Weißt du nicht mehr? Er hat irgend etwas geschrien, weil ich Engländerin bin. O doch, er war sehr grob, aber nur an dem Vormittag. Am nächsten Sonntag schien er sich nicht mehr daran erinnern zu können.«
    »Merkwürdig«, sagte Brodsky. »Ich kann mich gar nicht daran erinnern. Der Kaulquappen-Mensch. Ich habe ihn als so scheu und höflich in Erinnerung. Ich kann mich gar nicht an das erinnern, was du da erzählst.«
    »Vielleicht habe ich das ja auch nicht richtig in Erinnerung«, sagte Miss Collins. »Vielleicht habe ich ihn mit jemandem verwechselt.«
    »Ja, das glaube ich auch. Der Kaulquappen-Mensch war doch immer so höflich. So etwas hätte er nicht getan. Weil du Engländerin bist?« Brodsky schüttelte den Kopf. »Nein, dazu war er viel zu höflich.«
    Wieder blieb Miss Collins kurz stehen, um einen Farn zu mustern.
    »Viele Leute«, sagte sie schließlich, »waren damals so. Erst waren sie immer höflich und so geduldig. Sie haben wer weiß was getan, um freundlich zu einem zu sein, haben alle möglichen Opfer gebracht, und dann eines Tages sind sie ohne jeden erkennbaren Grund, vielleicht war es das Wetter oder sonst etwas, einfach explodiert. Und waren dann schnell wieder so, als wäre nichts gewesen. Viele sind damals so gewesen. Andrzej zum Beispiel. Er ist auch so gewesen.«
    »Andrzej ist verrückt gewesen. Ach übrigens, ich habe irgendwo gelesen, daß er bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Ja, das habe ich gelesen, in einer polnischen Zeitung, vor fünf oder sechs Jahren.«
    »Wie traurig. Ich nehme an, viele von damals sind inzwischen nicht mehr.«
    »Ich mochte Andrzej«, sagte Brodsky. »Ich habe es in einer polnischen Zeitung gelesen, eine ganz kleine Meldung, in der es hieß, er sei ums Leben gekommen. Bei einem Verkehrsunfall. Traurig ist das. Ich habe mich wieder an diese Abende erinnert, als wir in der alten Wohnung saßen. Wie wir in Decken eingewickelt den Kaffee miteinander geteilt haben. Ich habe an diese Bücher und Zeitungen überall gedacht und an unsere Gespräche. Über Musik, über Literatur, Stunden über Stunden. Wir haben an die Decke geschaut und geredet und immer weiter geredet.«
    »Ich wäre oft gern ins Bett gegangen, aber Andrzej wollte nie nach Hause gehen. Manchmal ist er bis zum Morgengrauen geblieben.«
    »Ja, stimmt. Wenn er bei einem Streit den kürzeren zog, wollte er nicht gehen. Er ist immer erst gegangen, wenn er überzeugt war, er würde recht behalten. Deshalb ist er manchmal bis zum Morgengrauen geblieben.«
    Miss Collins lächelte und seufzte dann. »Wie traurig, daß er ums Leben gekommen ist«, sagte sie.
    »Es war nicht der Kaulquappen-Mensch«, sagte Brodsky. »Es war der Mann in der Gemäldegalerie. Der hat uns so angeschrien. Ein merkwürdiger Kerl, immer hat er so getan, als würde er uns nicht kennen. Weißt

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