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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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im Laufe der Jahre schon unzählige Male mit ihm zurückgelegt – immer wieder seit jenem Sommernachmittag, als sie sich vor dem Juweliergeschäft auf der Hauptstraße zufällig begegnet waren. Und in all den Jahren hatte sie den Blick vorgetäuschter Gleichgültigkeit nicht vergessen, mit dem er sich an jenem Tag von ihr abgewendet hatte, als sei er in den Anblick eines Gegenstandes in der Auslage des Geschäftes vertieft.
    Zu dem Zeitpunkt – es war etwa ein Jahr, bevor er mit dem Trinken und mit den Beschimpfungen anfing – war diese gespielte Gleichgültigkeit typisch für jedweden Kontakt zwischen ihnen gewesen. Und obwohl sie bis zu diesem Nachmittag bereits mehrmals beschlossen hatte, eine Art Versöhnung herbeizuführen, hatte auch sie weggeschaut und war weitergegangen. Erst nachdem sie die Hauptstraße etwas weiter entlanggegangen war, vorbei an den italienischen Cafés, hatte sie ihrer Neugier nachgegeben und sich umgesehen. Da hatte sie gemerkt, daß er ihr gefolgt war. Wieder hatte er in ein Schaufenster gestarrt, aber immerhin war er dagewesen, nur ein kleines Stück von ihr entfernt.
    Sie war langsamer gegangen, denn sie hatte angenommen, er würde sie früher oder später einholen. Als sie ihre Ecke erreicht und er immer noch nicht zu ihr aufgeschlossen hatte, hatte sie sich noch einmal umgeschaut. An jenem Tag hatten sich, genau wie jetzt auch, zahlreiche Fußgänger auf dem Bürgersteig gedrängt, doch ihr war die Genugtuung zuteil geworden, deutlich zu beobachten, wie er mitten im Gehen stehengeblieben war und zu dem Blumenstand geschaut hatte, an dem er gerade vorbeigekommen war. Ein Lächeln hatte ihre Lippen umspielt, und als sie um ihre Ecke gebogen war, hatte ihre eigene Heiterkeit sie angenehm überrascht. Inzwischen schlenderte sie nur noch langsam vor sich hin, und auch sie hatte angefangen, sich die Auslagen von Geschäften anzusehen. Sie hatte in die Konditorei, den Spielzeugladen, das Textilgeschäft geschaut – damals hatte es die Buchhandlung noch nicht gegeben -, und die ganze Zeit hatte sie versucht, in Gedanken ihren ersten Satz zu formulieren, den sie an ihn richten wollte, wenn er sie endlich eingeholt hätte. »Ach Leo, was sind wir doch für Kindsköpfe«, hatte sie in Erwägung gezogen. Doch das war ihr viel zu vernünftig vorgekommen, und sie hatte überlegt, ob sie nicht etwas ironischer sein sollte: »Ich stelle fest, wir scheinen denselben Weg zu haben«, oder etwas in der Art. Doch dann hatte sie seine Gestalt um die Ecke biegen sehen, und sie hatte bemerkt, daß er einen Blumenstrauß in hellen Farben in der Hand hielt. Sie hatte sich schnell weggedreht und war wieder weitergegangen, diesmal in normaler Geschwindigkeit. Während sie sich dann ihrer Wohnung genähert hatte, war sie zum erstenmal an jenem Tag richtiggehend wütend auf ihn geworden. Ihren Nachmittag hatte sie so sorgfältig geplant. Wieso hatte er sich ausgerechnet diesen Augenblick ausgesucht, um ein Gespräch mit ihr anzubahnen? Als sie vor ihrer Tür angekommen war, hatte sie sich ein weiteres Mal verstohlen umgesehen, nur um festzustellen, daß er immer noch an die zwanzig Meter weit weg war.
    Sie hatte die Tür hinter sich geschlossen, und dem Drang widerstehend, aus dem Fenster zu schauen, war sie schnell in ihr Schlafzimmer an der Rückseite des Gebäudes gegangen. Dort hatte sie im Spiegel ihr Aussehen überprüft und ihre Gefühle unter Kontrolle gebracht. Als sie dann aus dem Schlafzimmer in den Flur getreten war, war sie wie angewurzelt stehengeblieben. Die Tür ganz hinten hatte weit offengestanden, und sie hatte bis ans andere Ende der Wohnung sehen können, durch den sonnendurchfluteten Salon nach vorn heraus und durch die Erkerfenster, bis auf die Straße draußen, wo er mit dem Rücken zum Haus immer noch zu sehen war und auf und ab schlenderte, als wäre er genau an dieser Stelle mit jemandem verabredet. Einen Moment lang hatte sie sich nicht gerührt, sie hatte plötzlich Angst gehabt, er könne sich umdrehen, durch die Fensterscheibe hereinschauen und sie sehen. Dann war seine Gestalt aus ihrem Blickfeld verschwunden, und sie hatte auf die Fassaden der Häuser gegenüber gestarrt und intensiv auf das Klingeln an der Tür gehorcht.
    Als er nach einer Minute immer noch nicht geklingelt hatte, war ganz plötzlich diese Wut auf ihn wieder hochgekommen. Ihr war klargeworden, daß er darauf wartete, sie möge herauskommen und ihn ins Haus bitten. Wieder hatte sie sich beruhigt und die

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