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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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Situation sorgfältig durchdacht und hatte beschlossen, nichts zu unternehmen, bis er geklingelt hätte.
    Während der nächsten Minuten hatte sie immer weiter gewartet. Einmal war sie ohne besonderen Grund erneut in ihr Schlafzimmer gegangen und dann gleich wieder auf den Flur hinausgetreten. Als es ihr dann schließlich in den Sinn gekommen war, er könne gegangen sein, hatte sie sich langsam Richtung Wohnungstür bewegt.
    Miss Collins hatte die Tür geöffnet, nach rechts und nach links geschaut und war überrascht gewesen, nirgendwo eine Spur von ihm entdecken zu können. Sie hatte damit gerechnet, ihn ein paar Häuser weiter weg auf der Lauer liegen zu sehen – zumindest aber hatte sie erwartet, die Blumen auf der Türschwelle zu finden. Trotz allem hatte sie in dem Augenblick kein Bedauern empfunden. Da war ganz gewiß eine Art Erleichterung gewesen und ein nicht unangenehmes Gefühl der Aufregung darüber, daß der Prozeß der Wiederannäherung endlich in die Wege geleitet war, aber Bedauern hatte sie keineswegs empfunden. Im vorderen Salon sitzend, hatte sie im Gegenteil einen Anflug von Triumph verspürt, weil sie standgehalten hatte. Solch kleine Siege, so hatte sie sich gesagt, seien äußerst wichtig und würden ihnen dabei helfen, die Irrtümer der Vergangenheit zu vermeiden.
    Erst Monate später hatte sie erkannt, daß sie an jenem Tag einen Fehler gemacht hatte. Und selbst dann war dieser Gedanke nur sehr verschwommen gewesen, und sie war ihm nicht weiter nachgegangen. Doch als dann die Monate vergingen, hatte jener Sommernachmittag allmählich immer größeren Raum in ihren Gedanken eingenommen. Sie war zu dem Schluß gekommen, daß es ihr großer Fehler gewesen war, die Wohnung zu betreten. Damit hatte sie etwas zuviel von ihm verlangt. Nachdem sie ihn so weit geführt hatte, um die Ecke herum und an den Geschäften vorbei, hätte sie bei dem kleinen Eisentor stehenbleiben und dann, wenn sie sich vergewissert hätte, daß er sie gut sehen konnte, in den Sternberg-Park gehen sollen. Dann wäre er ihr zweifellos gefolgt. Und selbst wenn sie eine Weile schweigend an den Sträuchern vorübergegangen wären, hätten sie doch früher oder später ein Gespräch angefangen. Und früher oder später hätte er ihr auch die Blumen überreicht. Während der etwa zwanzig Jahre, die seitdem vergangen waren, hatte Miss Collins nur selten auf jenes Eisentor schauen können, ohne irgendwo tief innen einen kleinen Ruck zu verspüren. Und das war dann auch der Grund dafür, daß sie Brodsky an diesem Vormittag auf geradezu zeremonielle Weise in den Park führte.
    Trotz der großen Bedeutung, die der Sternberg-Park in Miss Collins’ Phantasie inzwischen angenommen hatte, war es kein sehr reizvoller Ort. Im wesentlichen handelte es sich um einen betonierten Platz, der nicht größer war als der Parkplatz eines Supermarktes, und er schien in erster Linie der Pflanzen wegen geschaffen worden zu sein und nicht so sehr, um den Leuten in der Nachbarschaft Schönheit oder Annehmlichkeit zu bieten. Es gab weder Gras noch Bäume, lediglich mehrere Reihen mit Blumenbeeten, und um diese Tageszeit war der Platz eine einzige Sonnenfalle ohne das geringste Fleckchen Schatten. Doch Miss Collins schlug vor Entzücken die Hände zusammen, als sie die Blumen und Farne sah. Brodsky, der das Eisentor sorgfältig hinter sich schloß, schaute ohne große Begeisterung auf den Park, schien aber doch zufrieden angesichts der Tatsache, daß sie hier, abgesehen von den Fenstern der Wohnhäuser, die auf den Park gingen, völlig ungestört waren.
    »Manchmal führe ich die Leute, die mich besuchen, hierher«, sagte Miss Collins. »Es ist einfach faszinierend hier. Man sieht Pflanzenarten, die man sonst nirgendwo in Europa findet.«
    Gemächlich schlenderte sie weiter und schaute sich voller Bewunderung um, während Brodsky in respektvollem Abstand ein paar Schritte hinterherging. Die Verlegenheit, die sie nur ein paar Minuten vorher noch in der Gegenwart des anderen zur Schau getragen hatten, war jetzt völlig verschwunden, so daß jemand, der sie flüchtig vom Tor aus gesehen hätte, sie gut und gern für ein älteres, seit langem zusammenlebendes Paar hätte halten können, das wie gewohnt gemeinsam im hellen Sonnenschein spazierenging.
    »Aber natürlich«, sagte Miss Collins und blieb bei einem Strauch stehen, »Sie haben Parks wie diese ja nie gemocht, nicht wahr, Mr. Brodsky? Sie verabscheuen jedwede Nutzbarmachung der Natur.«
    »Willst du

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