Die Ungetroesteten
Steinfußboden. Die Wände waren bis zur Decke mit weißen Fliesen gekachelt. Ich hatte den Eindruck, als wäre da zu meiner Linken eine Reihe mit Waschbecken, aber ich war inzwischen so begierig, ans Klavier zu kommen, daß ich auf solche Einzelheiten kaum achtete. Mein Blick wurde ohnehin sofort auf die hölzernen Kabinen zu meiner Rechten gelenkt. Es gab drei davon, sie waren in aufdringlichem Froschgrün gestrichen. Die Türen der zwei äußeren Kabinen waren abgeschlossen, aber bei der mittleren Kabine – die ein wenig größer zu sein schien als die beiden anderen – stand die Tür offen, und drinnen entdeckte ich ein Klavier, dessen Deckel aufgeklappt war, so daß man die Tasten sehen konnte. Ohne weiter zu zögern, versuchte ich hineinzukommen, nur um festzustellen, daß dies eine deprimierend schwierige Aufgabe war. Der Tür, die sich nach innen öffnete, stand das Klavier im Weg, und um hineinzukommen und die Tür wieder schließen zu können, mußte ich mich dicht in eine Ecke zwängen und die Tür langsam an meiner Brust vorbeiziehen. Schließlich gelang es mir, die Tür zuzumachen und abzuschließen, und dann schaffte ich es – auch das angesichts der Enge nur mit Mühe -, den Hocker unter dem Klavier hervorzuholen. Doch als ich mich erst einmal gesetzt hatte, fand ich es bequem genug, und als ich die Finger die Tastatur auf und ab laufen ließ, konnte ich feststellen, daß das Klavier trotz der abgeblätterten Tasten und des verschrammten Äußeren über einen sanften, empfindsamen Klang verfügte und einwandfrei gestimmt war. Darüber hinaus war die Akustik in der Kabine nicht annähernd so klaustrophobisch, wie man das hätte erwarten können.
Ein Gefühl beträchtlicher Erleichterung überkam mich bei dieser Entdeckung, und plötzlich wurde mir bewußt, wie angespannt ich während der vergangenen Stunde gewesen war. Ich holte mehrmals tief Luft und machte mich daran, mich innerlich auf diese wichtigste aller Übungsstunden einzustellen. In dem Moment fiel mir ein, daß ich mich immer noch nicht entschieden hatte, welches Stück ich am Abend spielen wollte. Meine Mutter, so wußte ich, würde den Mittelsatz aus Yamanakas Globestructures: Option II besonders bewegend finden. Doch mein Vater würde ganz bestimmt Mullerys Asbestos and Fibre vorziehen. Es wäre sogar gut möglich, daß ihm der Yamanaka überhaupt nicht gefallen würde. Ich starrte eine Weile auf die Tasten, bevor ich mich mit großer Bestimmtheit für den Mullery entschied.
Nach diesem Entschluß fühlte ich mich bedeutend besser, und gerade als ich mich daranmachen wollte, die aufbrausenden Eröffnungsakkorde anzuschlagen, fühlte ich, wie etwas Hartes von hinten gegen meine Schulter stieß. Ich drehte mich um und sah verärgert, daß sich das Türschloß irgendwie gelockert hatte und die Kabine offenstand.
Ich kletterte umständlich von meinem Hocker und schlug die Tür zu. Da bemerkte ich, daß das ganze Türschloß verkehrt herum am Türrahmen hing. Nach eingehender Betrachtung und mit ein wenig Geschick gelang es mir, das Schloß wieder an seinen Platz zu bringen, doch schon als ich die Tür dann noch einmal schloß, war mir klar, daß ich bestenfalls eine vorübergehende Lösung gefunden hatte. Das Schloß würde sicher jeden Moment wieder herausfallen. Ich könnte mitten in Asbestos and Fibre sein – etwa mitten in einer der höchst eindringlichen Passagen im dritten Satz -, und die Tür könnte mühelos wieder aufschwingen, und ich wäre den Blicken aller ausgesetzt, die gerade zufällig an meiner Kabine vorbeigingen. Und natürlich, wenn irgendein begriffsstutziger Mensch, dem nicht klar wäre, daß ich mich hier drinnen befinde, versuchen wollte hereinzukommen, würde das Schloß ihm nicht einmal den geringsten Widerstand entgegensetzen.
All diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich mich wieder auf den Hocker setzte. Doch nur kurze Zeit später kam ich zu dem Schluß, daß dies womöglich die letzte Gelegenheit zum Üben war, die ich voll und ganz ausnutzen mußte. Und wenn die Bedingungen auch alles andere als ideal waren, so war doch das Klavier selbst vollkommen ausreichend. Mit einiger Bestimmtheit zwang ich mich dazu aufzuhören, mir über die kaputte Tür Sorgen zu machen, und mich noch einmal auf die Eröffnungstakte des Mullery zu konzentrieren.
Dann, als meine Finger schon über den Tasten schwebten, hörte ich ein Geräusch – ein leises Knirschen, wie es von einem Schuh oder einem Kleidungsstück
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