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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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über das Haus zu reden. Währenddessen versuchte ich, mir das Telefongespräch wieder ins Gedächtnis zu rufen, das sie gerade erwähnt hatte. Nach einer Weile kam mir eine schwache Erinnerung, genau diese Stimme schon gehört zu haben – oder zumindest eine härtere, verärgertere Variante dieser Stimme -, und zwar am anderen Ende eines Telefons, und das konnte auch noch gar nicht so lange her sein. Schließlich war ich überzeugt, mich auch an einen ganz bestimmten Satz erinnern zu können, den ich ihr durchs Telefon entgegengeschrien hatte: »Du lebst in so einer winzigen Welt!« Sie hatte weiter gestritten, und ich hatte voller Verachtung immer wieder gesagt: »So eine winzige Welt! Du lebst in so einer winzigen Welt!« Zu meiner großen Enttäuschung mußte ich jedoch feststellen, daß mir von diesem Gespräch sonst nichts mehr einfallen wollte.
    In meinem Bemühen, meinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, muß ich wohl angefangen haben, sie anzustarren, denn etwas verunsichert fragte sie mich schließlich:
    »Findest du, ich habe zugenommen?«
    »Aber nein.« Ich drehte mich lachend weg. »Du siehst ganz wunderbar aus.«
    Da fiel mir ein, daß ich noch gar nichts von dem Problem erwähnt hatte, das ihren Vater beschäftigte, und wieder setzte ich an, das Thema behutsam zur Sprache zu bringen. Doch genau in dem Moment stieß etwas von hinten gegen meinen Stuhl. Boris war zurückgekommen.
    Tatsächlich lief der Junge ganz in der Nähe von unserem Tisch immer im Kreis herum und trat eine weggeworfene Pappschachtel wie einen Fußball vor sich her. Als er merkte, daß ich ihn jetzt beobachtete, jonglierte er die Schachtel von einem Fuß auf den anderen, und dann gab er ihr einen kräftigen Stoß und schoß sie genau zwischen die Beine meines Stuhls.
    »Nummer Neun!« rief er und riß die Arme hoch. »Ein herrliches Tor von der Nummer Neun!«
    »Boris«, sagte ich, »solltest du die Schachtel nicht besser in den Abfalleimer werfen?«
    »Wann gehen wir denn endlich?« fragte Boris, indem er sich zu mir umdrehte. »Wir werden zu spät kommen. Bald ist es dunkel.«
    Ich schaute über ihn hinweg und sah, daß die Sonne tatsächlich schon über dem Platz unterging und viele Tische nicht mehr besetzt waren.
    »Tut mir leid, Boris. Was wolltest du denn machen?«
    »Los, schnell!« Der Junge zog mich am Arm. »Wir schaffen es bestimmt nicht mehr.«
    »Wo will Boris denn hin?« fragte ich seine Mutter leise.
    »Zum Spielplatz natürlich.« Sophie seufzte und stand auf. »Er will dir zeigen, was er inzwischen alles kann.«
    Ich schien keine andere Wahl zu haben, als auch aufzustehen, und im nächsten Augenblick gingen wir drei schon über den Platz.
    »Also«, sagte ich zu Boris, der mit mir Schritt hielt, »du willst mir etwas zeigen.«
    »Als wir vorhin da waren«, sagte er und nahm mich beim Arm, »war da dieser Junge, er war größer als ich, und er konnte nicht mal einen Torpedo machen! Mutter hat gesagt, er war mindestens zwei Jahre älter als ich. Ich habe ihm fünfmal gezeigt, wie das geht, aber er hat einfach zu große Angst gehabt. Er ist immer gerade nur bis oben gekommen, aber dann hat er sich nicht mehr getraut.«
    »Ach ja. Und du hast natürlich keine Angst, das zu machen. Diesen... diesen Torpedo.«
    »Natürlich habe ich keine Angst! Das ist doch leicht! Das ist wirklich kinderleicht!«
    »Na, dann ist es ja gut.«
    »Er hat solche Angst gehabt. Richtig komisch war das!«
    Wir verließen den Platz und gingen weiter über die kleinen engen kopfsteingepflasterten Straßen des Viertels. Boris schien den Weg gut zu kennen, und oft lief er vor lauter Ungeduld ein paar Schritte voraus. Etwas später kam er dann wieder an meine Seite und fragte:
    »Du kennst meinen Großvater?«
    »Ja. Wir sind gute Freunde.«
    »Großvater ist sehr stark. Er ist einer der stärksten Männer in der ganzen Stadt.«
    »Ach ja?«
    »Er kann richtig gut kämpfen. Er war früher mal Soldat. Er ist alt, aber er kämpft immer noch besser als die meisten Leute. Schlägertypen auf der Straße merken das nicht immer gleich, und dann erleben sie eine ziemlich böse Überraschung.« Boris sprang im Gehen plötzlich nach vorn. »Ehe sie es sich versehen, hat Großvater sie schon auf dem Boden.«
    »Ja, wirklich? Sehr interessant, Boris.«
    Genau in dem Augenblick, während wir immer noch durch die schmalen Kopfsteinpflasterstraßen gingen, fiel mir plötzlich noch etwas von dem Streit ein, den ich mit Sophie gehabt hatte. Es war etwa vor

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