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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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die Riemen fest, drängten sich an mir vorbei und hievten den Koffer auf den Tisch.
    Boris starrte auf den neuen Koffer, dann schaute er unsicher zu Gustav hoch. Sein Großvater vollführte gerade einen langsamen, schleifenden Ausfallschritt, nicht unähnlich dem eines Stierkämpfers. Einen Moment lang schien die Mühe, die es ihn kostete, Karton und Koffer auf den Schultern zu balancieren, ihn davon abzuhalten, die neue Herausforderung überhaupt wahrzunehmen. Boris beobachtete seinen Großvater und wartete auf den Augenblick, in dem er den zweiten Koffer sehen würde. Offensichtlich warteten darauf auch alle anderen, doch sein Großvater machte immer nur weiter mit seinem Tanz und tat so, als habe er nichts bemerkt. Das war ganz bestimmt ein Trick von ihm! Es war fast sicher, daß sein Großvater mit dem Publikum spielte, und jeden Moment, das wußte Boris, würde er den schweren Koffer aufnehmen und dafür vielleicht den leeren Karton abstellen. Doch aus irgendeinem Grund sah Gustav den Koffer einfach nicht, und jetzt riefen und gestikulierten die Leute. Dann schließlich bemerkte Gustav den Koffer, und auf sein zwischen dem Karton und dem ersten Koffer eingeklemmtes Gesicht legte sich ein Ausdruck des Entsetzens. Alle um Boris herum lachten und klatschten nur um so mehr. Langsam drehte sich Gustav immer weiter um die eigene Achse, doch den Blick hielt er, mit nach wie vor besorgtem Gesichtsausdruck, auf den neuen Koffer geheftet, und einen Augenblick lang ging es Boris durch den Sinn, daß der Großvater seine Besorgnis womöglich nicht gänzlich vortäuschte. Doch dann lachten alle Leute um ihn herum, Leute, die diese Vorstellung seines Großvaters schon viele Male gesehen hatten, und im nächsten Moment lachte auch Boris und stachelte Gustav weiter an. Gustav wurde auf die Stimme des Jungen aufmerksam, und wieder lächelten sich Großvater und Enkel zu.
    Dann nahm Gustav den leeren Karton von der Schulter, und nachdem er ihn mit einer Verächtlichkeit, die beinahe anmutig war, an seinem Arm hatte hinuntergleiten lassen, schleuderte er das Ding in die Menge. Das führte wiederum zu Gelächter und Jubelrufen, und der Karton, der über die Köpfe der Zuschauer nach hinten gereicht wurde, verschwand in den Tiefen des Raumes. Dann schaute Gustav wieder auf den neuen Koffer hinunter und hievte den ersten noch höher die Schulter hinauf. Noch einmal nahm sein Gesicht den Ausdruck tiefer Besorgnis an – diesmal war es ganz ohne Zweifel wirklich gespielt -, und Boris lachte wie alle anderen auch. Dann beugte Gustav allmählich die Knie. Das tat er ganz langsam, ob aus Gebrechlichkeit oder aus Effekthascherei, ließ sich nicht eindeutig sagen, schließlich war er ganz auf den Knien, den ersten Koffer hielt er immer noch auf der einen Schulter, mit der Hand des freien Arms langte er nach dem Griff des Koffers zu seinen Füßen. Dann erhob er sich langsam, aber immer ein Stückchen mehr, wobei das Klatschen anhielt, und schließlich hatte er sich wieder ganz aufgerichtet, den schweren Koffer in der Hand.
    Gustav spielte jetzt ungeheure Mühe – ungefähr so wie der bärtige Hoteldiener vorhin, als er den Pappkarton zum erstenmal gesehen hatte. Boris sah zu, und Stolz erfüllte ihn. Gelegentlich drehte er sich von seinem Großvater weg, um in die bewundernden Gesichter der Zuschauer zu sehen, die sich um ihn scharten. Sogar die Zigeunergeiger versuchten jetzt, eine Position einzunehmen, aus der sie bessere Sicht hatten, und nutzten dazu Bewegungen des gebeugten Ellenbogens als heimliches Hilfsmittel im Gedränge. Ein Geiger hatte sich auf diese Art bis ganz nach vorn durchgekämpft, so daß er jetzt auf den Tisch gebeugt und mit der Taille gegen den Tischrand gepreßt seine Fidel spielte.
    Dann fing Gustav wieder an, mit den Füßen seine schleifenden Bewegungen zu vollführen. Das Gewicht der beiden Koffer, besonders des einen, der mit den Holzstücken gefüllt worden war und den er sich nicht auf die Schulter zu hieven versuchte – was sicherlich gar nicht möglich war -, führte dazu, daß seine Füße jetzt kaum mehr über Sprungkraft verfügten, aber dennoch war das Ganze höchst eindrucksvoll, und die Menge geriet in Verzückung. »Unser alter Gustav!« fing es wieder mit den Rufen an, und auch Boris rief, wenn ihm auch diese Art, seinen Großvater anzusprechen, alles andere als vertraut war, so laut, wie er nur konnte: »Unser alter Gustav! Unser alter Gustav!«
    Wieder schien der alte Hoteldiener die Stimme des

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