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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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zitterten ihm die Beine, und dann stand er ganz ruhig da, den Koffer hatte er sicher auf der Schulter, den freien Arm hatte er nach der Golftasche ausgestreckt. Plötzlich durchzuckte Boris ein Gefühl der Angst, und er rief: »Nein!«, doch das ging unter in dem Singsang und dem Gelächter, den »Ahhs« und den Seufzern der Menge um ihn herum.
    »Na komm schon, Gustav!« rief der Hoteldiener neben ihm. »Zeig ihnen, was du kannst! Du wirst es ihnen schon zeigen!«
    »Nein! Nein! Großvater! Großvater!«
    »Unser alter Gustav!« waren die Stimmen zu hören. »Na komm schon! Zeig’s ihnen!«
    »Großvater! Großvater!« Boris hatte jetzt die Arme über den Tisch hinweg ausgestreckt, um die Aufmerksamkeit seines Großvaters auf sich zu lenken, doch Gustavs Gesicht blieb vor Konzentration ganz angespannt, mit ungeheurer Intensität starrte er auf den Schulterriemen der Golftasche, die auf dem Tisch lag. Dann beugte sich der ältliche Hoteldiener allmählich immer weiter hinunter, sein ganzer Körper zitterte unter dem Gewicht des Koffers auf seiner Schulter, seine Hand griff zu früh nach dem Riemen, der noch ein ziemliches Stück von ihm entfernt lag. Da war eine neue Anspannung in dem Raum, vielleicht war es die Ahnung, daß sich Gustav hier an einem Kunststück versuchte, das selbst seine Fähigkeiten überstieg. Dennoch blieb die Atmosphäre festlich, der Singsang seines Namens feierlich.
    Boris schaute flehentlich in die Gesichter der Erwachsenen um sich, dann zog er den Hoteldiener neben sich am Arm.
    »Nein! Nein! Das reicht jetzt. Großvater hat schon genug getan!«
    Der bärtige Hoteldiener – der Mann neben Boris – schaute überrascht zu dem Jungen hinunter und sagte dann lachend: »Nur keine Sorge, nur keine Sorge. Dein Großvater ist phantastisch. Das schafft er ganz bestimmt, und noch viel mehr. Viel mehr. Er ist phantastisch.«
    »Nein! Großvater hat jetzt genug getan!«
    Doch niemand, nicht einmal der bärtige Hoteldiener – der Boris einen Arm beruhigend um die Schulter gelegt hatte -, hörte zu. Denn Gustav kauerte jetzt praktisch auf dem Tisch, die Hand nur ein paar Zentimeter von dem Schulterriemen der Golftasche entfernt. Dann griff er danach, und während er immer noch tief am Boden kauerte, legte er sich den Riemen um die freie Schulter. Er zog den Riemen dichter zu sich heran und versuchte ein weiteres Mal, sich wieder gerade aufzurichten. Boris schrie und schlug auf die Tischplatte, dann endlich bemerkte Gustav ihn. Der Großvater war schon im Begriff, die Beine zu strecken, doch er hielt inne, und einen Moment lang starrten sich die beiden an.
    »Nein.« Boris schüttelte den Kopf. »Nein. Großvater hat schon genug getan.«
    Vielleicht konnte Gustav das in all dem Lärm nicht hören, doch er schien die Gefühle seines Enkels durchaus zu verstehen. Er nickte schnell, ein beruhigendes Lächeln leuchtete plötzlich in seinem Gesicht auf, und dann schloß er wieder die Augen, um sich konzentrieren zu können.
    »Nein! Nein! Großvater!« Boris zog den bärtigen Hoteldiener wieder am Arm.
    »Was ist denn los?« fragte der bärtige Hoteldiener, der vor lauter Lachen Tränen in den Augen hatte. Dann wandte er, ohne die Antwort abzuwarten, seine Aufmerksamkeit wieder Gustav zu und fiel noch kräftiger als zuvor in den Singsang mit ein.
    Gustav versuchte immer noch, sich langsam aufzurichten. Ein-, zweimal zitterte sein ganzer Körper, als wolle er zusammensacken. Sein Gesicht rötete sich merkwürdig. Unter- und Oberkiefer preßte er heftig aufeinander, die Wangen waren schon ganz verzerrt, die Nackenmuskeln standen hervor. Selbst in dem lärmenden Getöse hatte man den Eindruck, das Atmen des ältlichen Hoteldieners hören zu können. Und doch schien niemand außer Boris etwas davon zu bemerken.
    »Nur keine Sorge, dein Großvater ist phantastisch!« sagte der Bärtige. »Das ist doch noch gar nichts! Das macht er doch jede Woche!«
    Gustav richtete sich immer weiter auf, die Golftasche hatte er um die eine Schulter gehängt, den Koffer balancierte er auf der anderen Schulter. Dann endlich stand er vollkommen aufrecht, sein Gesicht zitterte, war aber voller Triumph, und jetzt erst brach das rhythmische Klatschen ab, und wilder Applaus und Jubelrufe ertönten. Auch die Geigen spielten jetzt eine langsamere, erhabenere, einem Finale angemessene Musik. Gustav drehte sich langsam um die eigene Achse, die Augen fast geschlossen, das Gesicht von Schmerz und Würde verzerrt.
    »Das reicht jetzt!

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