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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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den Karton und ging dann sofort von dem Tisch herunter.
    Von Anfang an wich Gustavs Vorstellung von dem ab, was die anderen Tänzer bisher gezeigt hatten. Als man ihm den Karton in die Hand gedrückt hatte, tat er erst gar nicht so, als sei er besonders schwer, sondern er warf ihn sich mühelos über die Schulter und vollführte eine achselzuckende Bewegung. Das löste überall lautes Gelächter aus, und ich hörte die Leute rufen: »Unser alter Gustav!« und »Gustav, wie er leibt und lebt!« Und während er noch demonstrierte, daß er die Last auf die leichte Schulter nahm, drängte sich ein Kellner nach vorne und warf einen richtigen Koffer auf den Tisch. An der Art, wie der Kellner ihn hochschwang und wie er dann laut und dumpf auf dem Tisch aufschlug, war zu erkennen, daß der Koffer keineswegs leer war. Er landete genau vor Gustavs Füßen, und ein Murmeln ging durch die Menge. Dann wurde der Singsang wieder aufgenommen, diesmal noch schneller als vorher. »Gustav! Gustav! Gustav!« Ich sah, daß Boris jede Bewegung seines Großvaters genauestens verfolgte, übergroßer Stolz stand ihm ins Gesicht geschrieben, er klatschte kraftvoll in die Hände und skandierte den Namen seines Großvaters. Gustav bemerkte Boris, lächelte ihn noch einmal an, faßte dann nach unten und nahm den Koffer am Griff hoch.
    Als sich Gustav – immer noch nach vorn gebeugt – den Koffer in die Hüfte stemmte, war ich sicher, daß er dessen Gewicht nicht vortäuschte. Als er sich dann aufrichtete, den Pappkarton hatte er immer noch auf der Schulter und den Koffer in der Hand, schloß er die Augen, und seine Miene verdüsterte sich. Doch niemand schien etwas Ungewöhnliches zu bemerken – sehr wahrscheinlich war das eine von Gustavs typischen Eigenheiten vor Beginn einer Vorstellung -, und immer noch waren der Singsang und das Klatschen ohrenbetäubend über dem Quietschen der Geigen zu hören. Doch einen Moment später hatte Gustav die Augen schon wieder geöffnet und schaute mit breitem Lächeln auf die Anwesenden herab. Dann hob er den Koffer noch höher, und er schaffte es, ihn sich unter den Arm zu klemmen, und in dieser Stellung – den Koffer unter dem einen Arm, den Karton auf der anderen Schulter – fing er an, mit langsamen, schleifenden Schritten zu tanzen. Es gab Jubelrufe und Gebrüll, und irgendwo in der Nähe des Eingangs hörte ich jemanden fragen: »Was macht er denn jetzt? Ich kann gar nichts sehen. Was macht er denn jetzt?«
    Dann hob Gustav den Koffer noch höher, und mit dem Koffer auf der einen, dem Karton auf der anderen Schulter tanzte er weiter. Da der Koffer sehr viel schwerer war als der Karton, mußte er sich stark zu der einen Seite hinüberbeugen, doch ansonsten schien es ihm gutzugehen, und seine Schritte waren noch immer äußerst lebhaft. Boris, der vor Entzücken strahlte, rief seinem Großvater etwas zu, das ich nicht verstand, worauf Gustav mit einer übertriebenen Kopfdrehung reagierte, was weiteres Geschrei und Gelächter auslöste.
    Während Gustav weitertanzte, nahm ich wahr, daß hinter mir irgend etwas vor sich ging. Eine ganze Weile schon hatte mir jemand mit ärgerlicher Regelmäßigkeit seinen Ellenbogen in den Rücken gestoßen, doch ich hatte angenommen, dies sei einfach Folge der Tatsache, daß die Menge so versessen darauf war, die Vorstellung so gut wie nur möglich zu sehen. Doch jetzt drehte ich mich um und sah, daß direkt hinter mir zwei Kellner auf dem Boden knieten und einen Koffer packten, obwohl die Menge sie von allen Seiten anrempelte. Sie hatten ihn schon fast ganz mit kleinen Holzstücken gefüllt, die wie Küchenbrettchen aussahen. Ein Kellner legte die Bretter zu kompakteren Gebilden zusammen, während der andere ungeduldig Zeichen in den hinteren Teil des Cafés machte und ärgerlich auf den freien Platz deutete, der im Koffer noch verblieben war. Dann sah ich, daß noch mehr Brettchen ankamen, immer zwei oder drei auf einmal, die von Hand zu Hand durch die Menge gereicht wurden. Die Kellner arbeiteten schnell und verstauten die Holzstücke, bis der Koffer zum Bersten gefüllt schien. Doch immer weitere Holzstücke – manchmal auch nur zerborstene Teile – wurden herbeigeschafft, und mit großer Geschicklichkeit brachten die Kellner auch diese noch unter. Vielleicht hätten sie mehr und immer noch mehr in den Koffer gepackt, doch das Geschiebe und Gedränge der Menschen um sie herum schien schließlich ihre Geduld zu erschöpfen, und sie klappten den Deckel zu, zogen

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