Die Ungetroesteten
Großvater! Hör auf! Hör auf!«
Gustav drehte sich immer weiter, er war entschlossen, allen im Raum seine Könnerschaft zu beweisen. Dann schien plötzlich etwas in ihm zuzuschnappen. Er blieb unvermittelt stehen, und einen Augenblick lang schien er sanft hin und her zu schwingen, sich zu wiegen wie in einer milden Brise. Im nächsten Moment hatte er sich wieder erholt und fuhr mit seinen Drehungen fort. Erst als er wieder in die Position gelangt war, in der er erstmals ganz aufrecht gestanden hatte, fing er an, den Koffer von der Schulter zu nehmen. Er ließ ihn mit einem lauten Krachen auf den Tisch fallen – er war zu schwer, so hatte er geschätzt, um ihn ohne Verletzungsgefahr für einen der Zuschauer in die Menge zu schleudern -, dann stieß er so lange mit dem Fuß dagegen, bis er von der Tischkante in die Arme seiner wartenden Kollegen glitt.
Jetzt applaudierte und jubelte die Menge, und dann fingen einige an, ein Lied zu singen – eine mitreißende Ballade mit ungarischem Text -, und das Ganze zu der Melodie, die die Zigeuner gerade spielten. Immer mehr Menschen stimmten ein, und bald sang der ganze Raum. Gustav ließ jetzt die Golftasche sinken. Mit metallischem Klacken fiel sie auf den Tisch. Diesmal versuchte er nicht, sie in die Menge zu stoßen, sondern hielt seine Arme einen Moment lang in die Höhe – selbst diese Geste schien ihn jetzt große Kraft zu kosten -, dann stieg er schnell von dem Tisch herunter. Zahlreiche Hände halfen ihm dabei, und Boris beobachtete, wie sein Großvater wieder sicher auf den Boden kam.
Alle im Raum schienen inzwischen ganz und gar im Bann des Liedes zu sein. Die Ballade hatte etwas Liebliches, Sentimentales, und bald faßten sich alle gegenseitig unter die Arme, um zu schunkeln. Einer der Zigeunergeiger kletterte auf den Tisch, schnell folgte ihm ein zweiter, und bald führten die beiden den ganzen Raum an, wobei sie sich im Rhythmus der Musik wiegten.
Boris drängte sich zu der Stelle, an der sein Großvater stand und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Obwohl Gustav nur wenige Augenblicke zuvor noch im Mittelpunkt des Interesses aller Anwesenden gestanden hatte, schien jetzt merkwürdigerweise kaum jemand zur Kenntnis zu nehmen, daß sich Großvater und Enkel innig umarmten, die Augen hatten sie geschlossen, und sie gaben sich keinerlei Mühe, ihre ungeheure Erleichterung voreinander zu verbergen. Nach einer recht lang erscheinenden Zeit lächelte Gustav auf Boris herab, doch der Junge hielt den Großvater immer noch fest umklammert und öffnete die Augen nicht.
»Boris«, sagte Gustav. »Boris. Du mußt mir unbedingt etwas versprechen.«
Der Junge hielt seinen Großvater weiter umklammert und sagte nichts.
»Boris, hör zu. Du bist ein guter Junge. Wenn mir etwas zustößt, irgend etwas, dann mußt du meinen Platz einnehmen. Weißt du, deine Mutter und dein Vater sind prachtvolle Menschen. Aber manchmal haben sie große Schwierigkeiten. Sie sind nicht so stark wie du und ich. Also, du siehst, wenn mir etwas zustößt und ich dann nicht mehr da bin, mußt du der Starke sein. Du mußt dich um deine Mutter und deinen Vater kümmern, die Familie stark halten, sie zusammenhalten.« Gustav entließ Boris aus seiner Umarmung und lächelte ihn an. »Das versprichst du mir doch, Boris, oder?«
Boris schien darüber nachzudenken, dann nickte er ernsthaft. Einen Augenblick später schon schienen sie von der Menge verschlungen zu werden, und ich sah sie nicht mehr.
Jemand zog mich am Ärmel, ich sollte mich unbedingt unterhaken und mitsingen.
Ich schaute mich um und sah, daß die anderen Geiger sich zu den beiden ersten auf dem Tisch gesellt hatten. Der ganze Raum schien sich im Gesang vereint um sie zu drehen. Noch mehr Leute waren in das Café gekommen, und überall herrschte dichtes Gedränge. Auch sah ich, daß die Türen zum Platz immer noch offenstanden und daß auch in der Dunkelheit dort draußen die Menschen schunkelten und sangen. Ich hakte mich bei einem stämmigen Mann unter – einem Hoteldiener, soweit ich das sehen konnte – und bei einer korpulenten Frau, die wahrscheinlich vom Platz hereingekommen war, und bald schon bewegte ich mich zwischen ihnen durch den Raum. Das Lied, das gesungen wurde, kannte ich nicht, aber bald wurde mir klar, daß auch die meisten anderen Anwesenden weder mit dem Text vertraut waren noch die ungarische Sprache beherrschten, sondern daß sie einfach nur Wörter sangen, die so ähnlich klangen wie der Text. Der Mann und
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