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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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klug vor. In der Tat, wieso sollte ich mir solche Sorgen machen? Wichtig war doch, daß man ab und zu einmal völlig abschaltete und sich amüsierte.
    Ich schloß die Augen und ließ zu, daß die angenehme Atmosphäre mich umspülte, und nur vage drang mir zu Bewußtsein, daß ich immer noch mitklatschte und daß ich im Takt mit dem Fuß auf den Boden stampfte. Vor meinem inneren Auge sah ich ein Bild meiner Eltern, wie sich die beiden in ihrer Pferdekutsche der Lichtung vor dem Konzertsaal näherten. Ich sah die Leute der Stadt – die Männer in schwarzen Anzügen, die Frauen mit Mantel und Schal und Juwelen -, die ihre Unterhaltungen unterbrechen und sich nach dem Geklapper der Pferdehufe umdrehen würden, das aus dem Dunkel der Bäume herüberkam. Und dann würde die funkelnde Kutsche in den Sog der Lichter preschen, die prächtigen Pferde würden langsam zum Stillstand kommen, und ihr Atem würde in die Nachtluft aufsteigen. Und mein Vater und meine Mutter würden aus dem Fenster der Kutsche schauen, auf ihren Gesichtern lägen erste Anzeichen aufgeregter Vorfreude, doch auch so etwas wie Vorsicht und Reserviertheit, ein Widerstreben, sich ganz und gar der Hoffnung hinzugeben, der Abend werde zu einem strahlenden Triumph. Und wenn dann der Kutscher in seiner Livree herbeieilen würde, um ihnen herauszuhelfen, und die Honoratioren sich in einer Reihe aufstellten, um sie willkommen zu heißen, dann würden sie das gespielt ruhige Lächeln aufsetzen, das ich noch aus meiner Kindheit kannte, von jenen seltenen Gelegenheiten her, als meine Eltern Gäste zum Mittag- oder Abendessen eingeladen hatten.
    Ich öffnete die Augen und sah, daß jetzt zwei Hoteldiener auf dem Tisch eine komische Nummer vorführten. Wer immer von den beiden den Karton gerade hielt, taumelte umher, bis er fast umfiel, und übergab dann dem anderen im letzten Moment den Karton. Dann merkte ich, daß Boris – der wahrscheinlich schon die ganze Zeit in dem Café gesessen hatte – ganz nah an den Tisch gekommen war und mit offensichtlichem Vergnügen zu den beiden Hoteldienern hochschaute. An der Art, wie er immer genau im richtigen Moment lachte und mitklatschte, war zu erkennen, daß der Junge mit dem ganzen Programm sehr vertraut war. Er saß zwischen zwei stämmigen, eher dunkelhäutigen Hoteldienern, die einander ähnlich genug sahen, um Brüder zu sein. Während ich noch zu ihm hinschaute, machte Boris zu dem einen der beiden eine Bemerkung, und da lachte der Mann und kniff den Jungen zum Spaß in die Wange.
    All das Treiben schien mehr und mehr Leute vom Platz hereinzulocken, und allmählich herrschte großes Gedränge in dem Café. Und während bei meinem Eintreffen nur zwei Zigeunergeiger gespielt hatten, merkte ich jetzt, daß drei weitere sich dazugesellt hatten, und die Klänge ihrer Fideln kamen jetzt noch energischer als zuvor aus allen Richtungen. Da ließ sich jemand von hinten vernehmen – ich hatte nicht den Eindruck, daß es einer der Hoteldiener war – und rief: »Gustav!«, und im Nu wurde der Ruf vorne an unserem Tisch aufgenommen. »Gustav! Gustav!« riefen die Hoteldiener, und allmählich wurde eine Art Singsang daraus. Auch der nervös wirkende Hoteldiener, der vorhin mit mir gesprochen hatte und der jetzt an der Reihe war, seinen Platz auf dem Tisch einzunehmen – er lieferte eine beseelte, wenn auch nicht sonderlich geschickte Vorstellung -, fiel bald in diesen Ruf ein, und obwohl er jetzt mit dem Karton hinter dem Rücken und an den Hüften hantierte, skandierte er immer wieder: »Gustav! Gustav!«
    Ich schaute mich nach Gustav um – er saß nicht mehr neben mir – und sah, daß er zu Boris hinübergegangen war und dem Jungen etwas ins Ohr flüsterte. Einer der dunkelhäutigen Brüder legte Gustav die Hand auf die Schulter und bat den ältlichen Hoteldiener eindringlich, jetzt seine Vorstellung auf dem Tisch zu geben. Gustav lächelte und schüttelte bescheiden den Kopf, doch die Rufe wurden nur noch lauter. Jetzt rief praktisch jeder im Raum seinen Namen, und auch diejenigen, die draußen auf dem Platz standen, schienen mitzumachen. Schließlich warf Gustav Boris ein mattes Lächeln zu und stand auf.
    Da Gustav um einige Jahre älter war als die anderen Hoteldiener, schien er größere Mühe zu haben, auf den Tisch zu klettern, doch viele Hände reckten sich vor, um ihm zu helfen. Als er erst einmal auf dem Tisch war, richtete er sich auf und lächelte ins Publikum. Der nervös wirkende Hoteldiener reichte ihm

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