Die Ungetroesteten
Gedanken gewöhnt, daß die Straßen vollkommen menschenleer waren, daß ich bei dem Anblick der Frau wie angewurzelt stehenblieb. Meine Überraschung wurde außerdem noch dadurch gesteigert, daß sie doch tatsächlich ein wallendes Abendkleid trug. Die Frau ihrerseits war ebenfalls stehengeblieben, doch dann schien sie mich zu erkennen, und lächelnd kam sie weiter auf mich zu. Als sie näher in das Licht der Straßenlaterne trat, sah ich, daß sie Ende Vierzig, vielleicht sogar schon Anfang Fünfzig war. Sie war ein wenig rundlich, bewegte sich jedoch mit beträchtlicher Anmut.
»Guten Abend«, sagte ich. »Könnten Sie mir vielleicht helfen? Ich suche den Konzertsaal. Ist das hier die Richtung?«
Die Frau stand jetzt genau vor mir. Lächelnd sagte sie:
»Nein, eigentlich müßten Sie dort entlang. Ich komme gerade von da. Ich wollte ein wenig frische Luft schnappen, aber ich gehe gern mit Ihnen zurück, Mr. Ryder. Natürlich nur, wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Es wäre mir ein Vergnügen. Aber ich will Sie nicht von Ihrem Spaziergang abhalten.«
»Nein, nein. Ich bin jetzt schon eine ganze Stunde herumgelaufen. Es ist an der Zeit, daß ich wieder zurückgehe. Ich hätte wirklich warten und dann erst mit den anderen Gästen eintreffen sollen. Aber ich hatte diese dumme Idee, daß ich während all der Vorbereitungen anwesend sein sollte, nur für den Fall, ich könnte gebraucht werden. Natürlich gab es dort nichts für mich zu tun. Bitte entschuldigen Sie, Mr. Ryder, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Christine Hoffman. Mein Mann ist der Direktor Ihres Hotels.«
»Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mrs. Hoffman. Ihr Mann hat mir schon viel von Ihnen erzählt.«
Ich bereute diese Bemerkung, kaum daß ich sie ausgesprochen hatte. Schnell schaute ich zu Mrs. Hoffman hinüber, konnte aber in diesem Licht ihr Gesicht nicht mehr deutlich sehen.
»Hier entlang, Mr. Ryder«, sagte sie. »Es ist nicht weit.«
Die Ärmel ihres Abendkleides bauschten sich, als wir uns in Gang setzten. Ich räusperte mich und sagte:
»Mrs. Hoffman, darf ich Ihren Worten entnehmen, daß die Ereignisse im Konzertsaal noch nicht in vollem Gange sind? Daß die Gäste und so weiter, nun ja, daß sie noch nicht alle eingetroffen sind?«
»Die Gäste? Aber nein. Ich könnte mir denken, daß die ersten Gäste frühestens in einer Stunde eintreffen.«
»Ach. Wunderbar.«
Recht gemächlich gingen wir weiter an dem Kanal entlang, und beide drehten wir uns von Zeit zu Zeit um zu den Spiegelungen der Straßenlaternen auf dem Wasser.
»Ich frage mich gerade, Mr. Ryder«, sagte sie endlich, »ob mein Mann, als er mit Ihnen über mich sprach, bei Ihnen den Eindruck erweckt hat, daß ich... ein eher kalter Mensch bin. Ich frage mich, ob er bei Ihnen diesen Eindruck erweckt hat.«
Ich lachte kurz auf. »Der überwältigende Eindruck, den er bei mir hinterlassen hat, Mrs. Hoffman, ist der, daß er außerordentlich an Ihnen hängt.«
Sie ging weiter, ohne etwas darauf zu sagen, und ich war mir nicht sicher, ob sie meine Bemerkung gehört hatte. Nach einer Weile sagte sie:
»Als ich noch jung war, Mr. Ryder, wäre niemand auf den Gedanken gekommen, mich so zu beschreiben. Als kalten Menschen. Als Kind war ich natürlich alles andere als kalt. Selbst heute fällt es mir schwer, mich so zu sehen.«
Ich murmelte etwas halbwegs Diplomatisches. Als wir uns dann vom Kanal weg einer schmalen Seitenstraße zuwandten, sah ich endlich das Kuppeldach des Konzertsaals, das vor dem nächtlichen Himmel erleuchtet war.
»Selbst heute«, sagte Mrs. Hoffman neben mir, »habe ich frühmorgens diese Träume. Immer frühmorgens. In diesen Träumen geht es immer um... um Zärtlichkeit. Es passiert nie viel in diesen Träumen, gewöhnlich sind es nicht viel mehr als kleine Fragmente. So beobachte ich beispielsweise meinen Sohn Stephan. Ich beobachte ihn, wie er im Garten spielt. Wir haben uns einmal sehr nahegestanden, Mr. Ryder, als er noch klein war. Ich habe ihn getröstet, seine kleinen Triumphe mit ihm geteilt. Wir haben uns so nahe gestanden, als er noch klein war. Oder manchmal träume ich auch von meinem Mann. Neulich morgens habe ich geträumt, daß mein Mann und ich einen Koffer auspacken. Wir waren in irgendeinem Schlafzimmer, und wir packten alles auf das Bett. Möglicherweise war es in einem Hotel im Ausland, vielleicht aber auch zu Hause. Auf jeden Fall packten wir zusammen diesen Koffer aus, und da war dieses... dieses
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