Die Ungetroesteten
würden Sie das überhaupt nicht glauben können, Mr. Ryder. Bin ich vollkommen verrückt, wenn ich an so etwas glaube? Wenn ich glaube, daß trotz all dieser Jahre nur ein einziger Moment, der richtige Moment, alles ändern wird?«
Was sie für Ungläubigkeit gehalten hatte, war etwas völlig anderes gewesen. Denn während sie noch gesprochen hatte, war mir wieder Stephans bevorstehender Auftritt eingefallen, und zweifellos war meine Aufregung deutlich zu sehen gewesen. Jetzt sagte ich, vielleicht ein wenig zu eifrig:
»Ich will ja keine falschen Hoffnungen wecken, Mrs. Hoffman. Aber es ist möglich, durchaus möglich, daß Sie sehr bald etwas erleben werden, etwas, das tatsächlich solch ein Moment sein könnte, genau wie Sie ihn eben beschrieben haben. Es ist durchaus möglich, daß Sie solch einem Moment in allernächster Zukunft begegnen werden. Etwas, das Sie überraschen, das Sie zwingen wird, alles neu zu beurteilen und alles in einem anderen, besseren Licht zu sehen. Etwas, das tatsächlich all diese schlimmen Jahre auslöschen wird. Ich will ja keine falschen Hoffnungen wecken, ich sage ja nur, daß es möglich ist. Solch ein Moment könnte sogar heute abend eintreten, also ist es von entscheidender Bedeutung, daß Sie den Mut nicht verlieren.«
Ich unterbrach mich, denn plötzlich kam mir der Gedanke, daß ich das Schicksal herausforderte. Obwohl ich beeindruckt gewesen war von dem kleinen Stück, das ich Stephan hatte spielen hören, wußte ich schließlich doch recht genau, daß der junge Mann durchaus in der Lage war, unter Druck zusammenzubrechen. Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr bereute ich, derartige Andeutungen gemacht zu haben. Doch als ich zu Mrs. Hoffman hinüberschaute, sah ich, daß meine Worte sie weder überrascht noch ihre freudige Erwartung geweckt hatten. Nach einer Weile sagte sie:
»Als Sie mich vorhin hier durch die Straßen gehen sahen, Mr. Ryder, habe ich nicht einfach nur frische Luft geschnappt, wie ich vorgab. Ich habe versucht, mich innerlich vorzubereiten. Denn daß es diese Möglichkeit geben könnte, von der Sie da sprechen, ist mir natürlich auch in den Sinn gekommen. Ein Abend wie dieser. Ja, vieles ist möglich. Also habe ich mich innerlich darauf vorbereitet. Und ich scheue mich nicht, vor Ihnen einzugestehen, daß ich gerade in diesem Augenblick ein wenig Angst habe. Denn sehen Sie, gelegentlich hat es in der Vergangenheit solche Momente gegeben, und ich war nicht stark genug, sie zu nutzen. Wer weiß, wie viele solcher Gelegenheiten sich noch bieten werden? Sie sehen also, Mr. Ryder, ich habe mein Möglichstes getan, um mich innerlich darauf vorzubereiten. Ach, da sind wir ja. Das ist die Rückseite des Gebäudes. Dieser Eingang führt Sie in den Küchenbereich. Ich bringe Sie noch zum Bühneneingang. Aber ich komme noch nicht mit hinein. Ich glaube, ich muß noch ein bißchen frische Luft schnappen.«
»Es hat mich sehr gefreut, Sie kennengelernt zu haben, Mrs. Hoffman. Es war sehr freundlich von Ihnen, mich in einer für Sie so schwierigen Zeit hierherbegleitet zu haben. Ich hoffe, alles wendet sich heute abend für Sie zum Guten.«
»Danke, Mr. Ryder. Das hoffe ich für Sie auch, da gibt es sicher noch so vieles, an das Sie denken müssen. Es war mir eine große Freude, Ihnen begegnet zu sein.«
NEUNUNDZWANZIG
Als Mrs. Hoffman in der Nacht verschwand, drehte ich mich um und eilte zu dem Eingang, auf den sie gedeutet hatte. Dabei sagte ich mir, daß ich die Lektion des falschen Alarms, die ich gerade gelernt hatte, unbedingt beachten sollte; es war absolut unumgänglich, dafür zu sorgen, daß nichts mich mehr von den bedeutenden Aufgaben, die vor mir lagen, ablenkte. Tatsächlich schien mir jetzt, da ich mich endlich anschickte, den Konzertsaal zu betreten, alles plötzlich ganz einfach zu sein. Der springende Punkt war der, daß ich nach all diesen Jahren wieder einmal vor meinen Eltern auftreten sollte. Vor allem mußte ich deshalb sicherstellen, daß mein Auftritt der prächtigste, der überwältigendste sein würde, dessen ich fähig war. Im Vergleich dazu war selbst die Frage-und-Antwort-Runde nur von zweitrangiger Bedeutung. All die Rückschläge, all das Chaos der vergangenen Tage würde sich als völlig belanglos erweisen, vorausgesetzt, ich konnte jetzt, am heutigen Abend, mein eigentliches Ziel erreichen.
Die breite weiße Tür wurde durch ein einziges Nachtlicht schwach von oben beleuchtet. Ich mußte mich mit dem ganzen Gewicht
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