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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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den Boden und überlegte. Über seine Schulter schauend sah ich, daß die anderen uns abwartend beobachteten. Dann sagte der Chirurg:
    »Vielleicht wären Sie so freundlich und würden einmal im Kofferraum nachschauen. Möglicherweise ist ja etwas da, das wir brauchen können. Irgendein scharfer Gegenstand, mit dem ich die Operation durchführen könnte.«
    Ich dachte darüber nach, dann sagte ich: »Ich werde gerne nachsehen gehen. Aber vielleicht sollte ich zuerst mit Mr. Brodsky darüber sprechen. Sehen Sie, ich kenne ihn ein wenig, und ich sollte wirklich zuerst mit ihm sprechen, bevor... bevor ein solch drastischer Schritt unternommen wird.«
    »Na schön«, sagte der Chirurg. »Aber meine Ansicht – meine berufliche Meinung – ist, daß wir schon sehr viel Zeit verschwendet haben. Bitte machen Sie schnell.«
    Ich ging noch einmal zu Brodsky hinüber und schaute ihm ins Gesicht.
    »Mr. Brodsky...«, begann ich, aber er unterbrach mich sofort.
    »Ryder, helfen Sie mir. Ich muß zu ihr.«
    »Zu Miss Collins? Ich glaube, es gibt jetzt wichtigere Dinge, um die man sich kümmern muß.«
    »Nein, nein. Ich muß mit ihr sprechen. Ich sehe es. Ich sehe es jetzt ganz klar. Mein Kopf ist jetzt ganz klar. Seit das passiert ist, ich weiß nicht, ich war auf meinem Fahrrad, etwas hat mich erfaßt, irgendein Fahrzeug, ein Auto, wer weiß? Ich muß betrunken gewesen sein, ich erinnere mich nicht, aber den Rest weiß ich noch. Ich sehe es jetzt, ich sehe alles. Er ist es. Die ganze Zeit hat er gewollt, daß es schiefgeht. Er ist es, er hat das alles gemacht.«
    »Wer? Hoffman?«
    »Er ist der verachtungswürdigste Mensch. Der verachtungswürdigste. Früher habe ich das nicht gesehen, aber jetzt ist es mir klar. Seit das Fahrzeug mich erfaßt hat, was immer es auch war, ein Auto, ein Lastwagen, seitdem sehe ich es ganz deutlich. Er ist heute abend zu mir gekommen und war voller Verständnis. Ich habe auf dem Friedhof gewartet. Ich habe gewartet und gewartet. Mein Herz hat geklopft. Ich habe all diese Jahre gewartet. Das wissen Sie nicht, oder, Ryder? Ich habe sehr, sehr lange gewartet. Auch wenn ich betrunken war, habe ich gewartet. Nächste Woche, habe ich mir immer gesagt. Nächste Woche höre ich mit dem Trinken auf und gehe zu ihr. Ich bitte sie, mich auf dem Sankt-Peter-Friedhof zu treffen. Jahr um Jahr habe ich mir das gesagt. Und da war ich nun endlich und habe gewartet. Auf dem Grab von Per Gustavsson, auf dem ich manchmal mit Bruno gesessen habe. Ich habe gewartet. Fünfzehn Minuten, eine halbe Stunde, eine Stunde. Dann kommt er. Er berührt mich, hier, an der Schulter. Sie hat ihre Meinung geändert, sagt er. Sie kommt nicht. Kommt nicht einmal heute abend in das Konzert. Er ist freundlich wie immer. Ich höre ihm zu. Trinken Sie Whisky. Das wird Sie beruhigen. Das ist doch etwas anderes heute. Aber ich kann doch keinen Whisky trinken, sage ich. Wie kann ich denn Whisky trinken? Sind Sie verrückt? Nein, trinken Sie einen Whisky, sagt er. Nur einen kleinen. Das wird Ihnen helfen, ruhiger zu werden. Ich dachte, er wollte nur freundlich sein. Jetzt verstehe ich das. Von Anfang an wollte er, daß es schiefgeht. Er hat nie geglaubt, daß ich es schaffen könnte. Ich würde es nicht schaffen, weil ich ja nur ein... ein Stück Dreck bin. Davon war er überzeugt. Jetzt bin ich nüchtern. Mit dem, was ich getrunken habe, könnte man ein Pferd umbringen, aber seit der Sache mit dem Wagen bin ich nüchtern. Ich sehe es jetzt ganz deutlich. Er ist es. Er ist noch verachtungswürdiger als ich. Damit soll er nicht durchkommen. Ich werde es schaffen. Helfen Sie mir, Ryder. Das darf er nicht. Ich fahre jetzt zum Konzertsaal. Ich werde es ihnen schon zeigen. Sie ist fertig, die Musik, sie ist hier in meinem Kopf, alles hier oben. Ich werde es ihnen schon zeigen. Aber sie muß kommen. Ich muß mit ihr sprechen. Helfen Sie mir, Ryder. Bringen Sie mich zu ihr. Sie muß kommen, sie muß im Zuschauerraum sitzen. Dann wird sie sich erinnern. Er ist der verachtungswürdigste Mensch, aber ich sehe es jetzt ganz deutlich. Helfen Sie mir, Ryder.«
    »Mr. Brodsky«, unterbrach ich ihn. »Es ist ein Chirurg anwesend. Er muß eine Operation durchführen. Es könnte ein wenig schmerzhaft sein.«
    »Helfen Sie mir, Ryder. Helfen Sie mir nur, zu ihr zu kommen. Ihr Auto? Bringen Sie mich hin. Bringen Sie mich zu ihr. Sie wird in dieser Wohnung sein. Ich hasse diese Wohnung. Wie ich sie hasse, hasse. Da draußen habe ich immer gestanden. Bringen Sie

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