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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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fuhr weiter durch den Wald, meine Wut wurde immer stärker, und ich beschloß, umgehend zu erledigen, was auch immer ich jetzt tun mußte, und dann so schnell wie möglich zum Konzertsaal zurückzufahren. Doch gleich darauf kam mir der Gedanke, daß ich gar nicht genau wußte, wie ich zu Sophies Wohnung kommen sollte oder ob dieser Waldweg überhaupt in die richtige Richtung führte. Ein Gefühl der Sinnlosigkeit überkam mich allmählich, aber dennoch raste ich weiter und starrte in den Wald, der sich im Scheinwerferlicht vor mir auftat.
    Dann nahm ich plötzlich zwei Gestalten wahr, die winkend auf der Straße vor mir standen. Sie waren direkt vor mir, und obwohl sie zur Seite traten, als ich näher kam, machten sie weiter nachdrücklich Zeichen. Ich fuhr langsamer und sah, daß am Straßenrand eine Gruppe von fünf oder sechs Leuten um einen kleinen tragbaren Ofen herum ein Lager aufgeschlagen hatte. Mein erster Gedanke war, daß es sich um Landstreicher handelte, doch dann sah ich eine Frau mittleren Alters in eleganter Kleidung und einen grauhaarigen Mann im Anzug, die sich zu meinem Fenster herunterbeugten. Die anderen hinter ihnen – die auf etwas, das nach umgedrehten Kisten aussah, um den Ofen herum gesessen hatten – standen jetzt auf und kamen auf das Auto zu. Sie alle hatten, so merkte ich jetzt, Campingtassen aus Blech in der Hand.
    Als ich das Fenster herunterdrehte, schaute die Frau zu mir herein und sagte:
    »Ach, wir sind ja so froh, daß Sie vorbeigekommen sind. Sehen Sie, wir sind gerade ganz festgefahren in einer Diskussion, und wir können zu keinerlei Einigung kommen. Das ist doch immer das Problem, nicht? Wir können uns über nichts einigen, und das gerade jetzt, wo es notwendig ist, zu handeln.«
    »Aber natürlich«, sagte der grauhaarige Mann im Anzug feierlich, »müssen wir bald zu irgendeiner Entscheidung kommen.«
    Doch noch bevor einer von ihnen weitersprechen konnte, sah ich, daß die Gestalt, die hinter ihnen herankam und sich jetzt herunterbeugte, um mich anzusehen, Geoffrey Saunders war, mein alter Schulfreund. Als er mich erkannte, drängte er sich nach vorn und klopfte gegen die Wagentür.
    »Ach, ich habe mich schon gefragt, wann ich dich wiedersehen würde«, sagte er. »Um ganz ehrlich zu sein, ich war allmählich schon ein bißchen ärgerlich. Weißt du, weil du einfach nicht zum Tee gekommen bist. Obwohl du es doch zugesagt hattest und so. Na ja, ich glaube, jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, das alles zu erörtern. Aber trotzdem, ein bißchen frech ist es schon von dir, alter Knabe. Na, macht nichts. Du solltest lieber aussteigen.« Damit öffnete er die Wagentür und trat beiseite. Ich wollte schon protestieren, doch er fuhr fort: »Komm schon, trink einen Kaffee mit uns. Dann kannst du dich an unserer Diskussion beteiligen.«
    »Also ehrlich, Saunders«, sagte ich, »das ist jetzt wohl kaum für mich der geeignete Zeitpunkt.«
    »Ach, komm schon, alter Knabe.« Es lag eine Spur von Verärgerung in seiner Stimme. »Weißt du, ich habe viel nachgedacht über dich, seit wir uns neulich abend getroffen haben. Ich habe mich an unsere Schulzeit erinnert und so. Heute morgen zum Beispiel bin ich aufgewacht und habe an die Zeit gedacht, du weißt das wahrscheinlich nicht mehr, an die Zeit, als wir für ein paar jüngere Schüler die Richtungsweiser in einem Querfeldeinrennen spielten. Muß so um die Zeit herum gewesen sein, als wir vierzehn oder fünfzehn waren. Du weißt das wahrscheinlich nicht mehr, aber mir ist das heute morgen, als ich noch im Bett lag, wieder eingefallen. Wir standen draußen vor diesem Pub am Rand von diesem großen Feld, und du bist wegen irgend etwas ganz aufgebracht gewesen. Steig doch aus, alter Knabe, sonst kann ich gar nicht richtig mit dir reden.« Ungeduldig hatte er immer weiter Zeichen gemacht. »So ist’s gut. Na bitte.« Er nahm mich mit der freien Hand am Ellenbogen – in der anderen hielt er die Kaffeetasse -, während ich zögerlich aus dem Auto stieg. »Ja, an den Tag mußte ich wieder denken. Einer von diesen nebligen Oktobermorgen, wie sie für England typisch sind. Da standen wir dann also herum und warteten darauf, daß die anderen keuchend aus dem Nebel auftauchen würden, und ich weiß noch, daß du andauernd gesagt hast: ›Für dich ist das ja in Ordnung, für dich ist das alles gut und schön‹ und daß du furchtbar unglücklich warst. Also habe ich schließlich zu dir gesagt: ›Hör mal, dir geht es doch nicht nur

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