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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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allein so. Du bist doch nicht der einzige auf der Welt, der Sorgen hat.‹ Und ich habe angefangen, dir von der Zeit zu erzählen, als ich sieben oder acht war und als wir mit der ganzen Familie Urlaub gemacht haben, meine Eltern, mein kleiner Bruder und ich. Wir sind in einen dieser englischen Badeorte gefahren, nach Bournemouth oder so. Vielleicht war es auch die Isle of Wight. Das Wetter war herrlich und so, aber weißt du, irgend etwas stimmte nicht, wir sind einfach nicht miteinander klargekommen. Natürlich gar nichts Ungewöhnliches bei so einem Familienurlaub, aber das wußte ich damals nicht, ich war ja erst sieben oder acht. Na jedenfalls, es war einfach nicht das Wahre, und eines Nachmittags ist mein Vater einfach davongestürmt. Ich meine, einfach so, aus heiterem Himmel. Wir hatten uns gerade etwas an der Küste angesehen, und meine Mutter war dabei, uns etwas zu zeigen, und plötzlich ging er einfach weg. Er hat nicht geschrien oder so etwas, er ist einfach nur weggegangen. Wir wußten nicht, was wir tun sollten, also haben wir einfach angefangen, ihm hinterherzugehen, Mutter, der kleine Christopher und ich, wir sind ihm hinterhergegangen. Wir sind ihm nicht dicht gefolgt, immer etwa dreißig Meter hinter ihm, gerade dicht genug, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Und Vater ging immer weiter. Die ganze Küste entlang, über den Pfad mit den Klippen, an Strandkabinen und all den Sonnenbadenden vorbei. Dann ging er Richtung Stadt, vorüber an den Tennisplätzen und durch die Straßen mit den Geschäften. Wir müssen ihm eine gute Stunde hinterhergegangen sein. Und nach einer Weile machten wir allmählich eine Art Spiel daraus. So sagten wir etwa: ›Guckt mal, er ist gar nicht mehr böse. Er spielt nur mit uns!‹ Oder etwa: ›Er hält den Kopf absichtlich so. Guckt euch das nur an!‹, und dann lachten wir und lachten. Und wenn man genau hinschaute, konnte man glauben, daß er absichtlich so komisch lief. Christopher war ja noch so klein, ich habe es ihm gesagt, ich habe ihm gesagt, Vater geht so, weil er einen Spaß machen will, und Christopher lachte und lachte, als wenn es alles nur ein Spiel wäre. Und Mutter auch, sie lachte und sagte: ›Ach, Jungs, euer Vater!‹ und lachte noch mehr. Und wir gingen immer so weiter, und siehst du, ich war der einzige, obwohl ich doch erst sieben oder acht war, ich war der einzige, der wußte, daß Vater das nicht wirklich zum Spaß machte. Daß er das Ganze noch längst nicht verdaut hatte und vielleicht sogar wütender und immer wütender wurde, weil wir ihm hinterhergingen. Weil er sich vielleicht auf eine Bank setzen oder irgendwo in ein Café gehen wollte, das aber wegen uns nicht konnte. Weißt du das noch? Ich habe dir das alles damals erzählt. Und einmal habe ich zu Mutter hingeschaut, weil ich wollte, daß das jetzt aufhört, und da habe ich es dann gemerkt. Ich habe gemerkt, daß sie selbst überzeugt war, ganz und gar überzeugt, daß Vater es alles nur aus Spaß machte. Und der kleine Christopher wollte die ganze Zeit hinlaufen. Weißt du, direkt zu Vater hinlaufen. Und ich mußte andauernd Ausreden erfinden, ich habe gelacht und gesagt: ›Nein, das ist verboten. Das ist gegen die Spielregeln. Wir müssen weit hinten zurückbleiben, sonst funktioniert es nicht.‹ Aber weißt du, Mutter hat gesagt: ›Ach ja! Wieso gehst du nicht und ziehst ihn am Hemd und guckst, ob du zurücklaufen kannst, ehe er dich fängt!‹ Und ich mußte andauernd sagen, ich war der einzige, weißt du, der einzige, ich mußte andauernd sagen: ›Nein, nein, wir wollen noch warten. Bleib hier. Bleib hier.‹ Mein Vater hat ziemlich komisch ausgesehen. Er hatte so einen merkwürdigen Gang, wenn man ihn so aus der Ferne sah. Hör mal, alter Knabe, wieso setzt du dich nicht? Du siehst ja vollkommen erschöpft und sehr besorgt aus. Setz dich doch einfach hierher und hilf uns bei unserer Entscheidung.«
    Geoffrey Saunders deutete auf eine umgedrehte Apfelsinenkiste bei dem Campingofen. Ich war tatsächlich sehr erschöpft und entschied, daß ich alles, was an Aufgaben vor mir lag, nach einer kleinen Ruhepause und nach einem Schluck Kaffee bestimmt besser meistern konnte. Ich setzte mich auf eine Kiste, und dabei merkte ich, daß mir die Knie zitterten und daß ich regelrecht schwankte. Teilnahmsvoll versammelten sich die Leute um mich. Jemand hielt mir eine Tasse mit Kaffee hin, während mir ein anderer die Hand auf den Rücken gelegt hatte und sagte: »Ruhen Sie sich einfach

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