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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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nach sorgfältiger Überlegung eigens für dich ausgesucht habe? Sieh es dir doch an! Sieh es dir doch an!« Ich versuchte, das Buch seinem Griff zu entziehen, doch er klammerte sich daran fest und warf dann seine Arme darüber. »Es ist einfach nur ein nutzloses altes Handbuch, das jemand wegwerfen wollte. Glaubst du denn wirklich, daß man aus einem Buch, aus so einem Ding irgend etwas lernen kann?«
    Ich versuchte immer noch, ihm das Buch wegzuziehen, doch Boris, der sich ganz über den Tisch gelehnt hatte, schützte das Buch jetzt mit seinem Körper. Die ganze Zeit wahrte er dabei ein provozierendes Schweigen. Ich zerrte noch einmal daran, voller Entschlossenheit, ihm das Ding ein für allemal wegzunehmen.
    »So hör doch, es ist ein nutzloses Geschenk. Völlig nutzlos. Kein Gedanke, kein Gefühl ist beim Kauf des Buches investiert worden. Es dir zu geben ist mir erst hinterher eingefallen, auf jeder Seite steht das deutlich geschrieben. Aber du denkst, ich habe dir etwas so Wundervolles geschenkt! Gib es mir, jetzt gib es mir endlich!«
    Vielleicht aus Angst, das Handbuch könnte zerreißen, hob Boris plötzlich die Arme, und ich hielt auf einmal das Buch in der Hand. Er schwieg noch immer, und ich kam mir wegen meines Ausbruchs irgendwie lächerlich vor. Ich sah auf das Buch, das in meiner Hand baumelte, dann warf ich es in die andere Ecke des Raumes. Es schlug auf einem Tisch auf und landete irgendwo im Dunkeln. Sofort fühlte ich mich ruhiger und holte tief Luft. Als ich dann wieder zu Boris hinsah, saß er ganz gerade da und starrte auf die Stelle, an der das Handbuch gelandet war. Dann stand er auf und lief hin, um es sich zurückzuholen. Doch er hatte noch nicht einmal die Hälfte des Weges zurückgelegt, als Sophies überaus besorgte Stimme vom Korridor her zu hören war:
    »Boris, komm einen Augenblick her. Nur einen Augenblick.«
    Boris zögerte und schaute noch einmal zu der Stelle, an der das Buch gelandet war, dann verließ er den Raum.
    »Boris«, konnte ich Sophie draußen sagen hören, »geh und frag Großvater, wie es ihm jetzt geht. Und frag ihn, ob er möchte, daß der Mantel irgendwie geändert wird. Die unteren Knöpfe könnten falsch angebracht sein. Der Mantel könnte im Wind zu sehr aufklappen, wenn Großvater viel auf der Brücke steht. Geh und frag ihn, aber halte dich nicht auf und rede nicht zu lange mit ihm. Frag ihn einfach und komm dann sofort wieder heraus.«
    Bis ich wieder draußen auf dem Korridor stand, war der Junge schon in Gustavs Garderobe verschwunden, und die Szene, die mich empfing, war mir längst vertraut: Sophie stand angespannt da und rührte sich nicht vom Fleck, sie starrte auf die Tür; die Hoteldiener, die ein wenig weiter weg standen, schauten mit besorgtem Gesichtsausdruck zu. Doch in Sophies Blick lag eine Verzweiflung, die ich vorher nicht bemerkt hatte, und plötzlich spürte ich ihr gegenüber eine Anwandlung von Zärtlichkeit. Ich ging zu ihr hin und legte ihr den Arm um die Schultern.
    »Das ist für uns alle eine schwierige Zeit«, sagte ich sanft. »Eine sehr schwierige Zeit.«
    Ich wollte sie näher zu mir heranziehen, doch plötzlich schüttelte sie meinen Arm ab und starrte nur weiter auf die Tür. Bestürzt und ärgerlich über diese Zurückweisung, sagte ich zu ihr:
    »Also hör mal, in Zeiten wie diesen müssen wir einander beistehen.«
    Sophie antwortete nicht, und dann kam Boris wieder aus der Garderobe heraus.
    »Großvater sagt, der Mantel ist genau das, was er wollte, und er gefällt ihm um so mehr, als er ja von Mutter kommt.«
    Sophie gab ein gereiztes Stöhnen von sich. »Aber will er nun, daß ich den Mantel ändere oder nicht? Wieso sagt er das nicht? Der Arzt wird doch bald hier sein.«
    »Er sagt... er sagt, er mag den Mantel sehr. Er mag ihn wirklich sehr.«
    »Frag ihn wegen der unteren Knöpfe. Wenn er ständig im Wind auf der Brücke steht, muß sich der Mantel richtig schließen lassen.«
    Boris dachte eine Weile darüber nach, dann nickte er und ging in die Garderobe zurück.
    »Sieh mal«, sagte ich zu Sophie, »dir scheint nicht klar zu sein, welchen Belastungen ich im Moment ausgesetzt bin. Weißt du eigentlich, daß ich sehr bald schon auf die Bühne muß? Ich muß komplexe Fragen hinsichtlich der Zukunft dieser Gemeinde beantworten. Es wird eine elektronische Anzeigetafel geben. Weißt du überhaupt, was das bedeutet? Es ist ja gut und schön, daß du dir über diese Knöpfe und das alles Sorgen machst. Aber weißt du

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