Die Ungetroesteten
an.
»Nein, das wird er nicht«, unterbrach Sophie ihn nach einer Weile. »Er wird nett zu dir sein. Nein, das verspreche ich. Das wird er ganz bestimmt. Ich werde ihn bitten hereinzukommen. Aber ich muß jetzt gehen und mit Großvater sprechen. Bevor der Arzt eintrifft.«
Sophie kam heraus und schloß die Tür. Dann kam sie nah zu mir und sagte ganz leise:
»Bitte geh hinein und warte bei ihm. Er ist so aufgeregt. Ich muß gehen und mit Papa sprechen.« Im Nu hatte sie mir eine Hand auf den Arm gelegt und sagte: »Bitte sei wieder lieb zu ihm. So wie früher. Er vermißt das so.«
»Tut mir leid, ich weiß gar nicht, wovon du redest. Wenn er so aufgeregt ist, dann doch wohl, weil du...«
»Bitte«, sagte Sophie. »Vielleicht ist es alles meine Schuld, aber bitte laß uns jetzt damit aufhören. Bitte geh hinein und bleib bei ihm.«
»Natürlich werde ich bei ihm bleiben«, erwiderte ich kühl. »Warum auch nicht? Du gehst jetzt besser zu deinem Vater hinein. Er hat wahrscheinlich alles mitbekommen.«
Ich betrat den Raum, in den Boris sich zurückgezogen hatte, und stellte überrascht fest, daß es dort ganz anders aussah als in den anderen Garderoben, die ich vom Korridor aus gesehen hatte. Tatsächlich sah es viel eher nach Klassenzimmer aus, es gab ordentliche Reihen von kleinen Tischen und Stühlen und vorne eine große Tafel. Der Raum war groß und schwach erleuchtet, überall waren tiefe Schatten. Boris saß an einem Tisch recht weit hinten und schaute kurz auf, als ich hereinkam. Ich sagte nichts zu ihm und fing an, mich umzusehen.
Auf der Tafel war ein wirres Gekritzel zu sehen, und ich überlegte kurz, ob es wohl von Boris stammte. Als ich dann wieder die leeren Reihen entlangging und die Tabellen und Karten betrachtete, die an den Wänden aufgehängt waren, seufzte der Junge tief. Ich schaute zu ihm hin und sah, daß er sich die schwarze Tasche auf den Schoß gestellt hatte und angestrengt versuchte, etwas daraus hervorzuziehen. Schließlich holte er ein großes Buch hervor und legte es vor sich auf den Tisch.
Ich drehte mich um und schlenderte weiter durch den Raum. Als ich das nächste Mal zu ihm hinschaute, blätterte er fasziniert die Seiten um, und ich sah, daß er sich wieder einmal das Heimwerkerhandbuch anschaute. Ich war darüber mehr als nur leicht irritiert und drehte mich weg, um mir ein Plakat anzusehen, das vor den Gefahren des Mißbrauchs von Lösungsmitteln warnte. Dann sagte Boris hinter mir:
»Ich mag dieses Buch wirklich. Man bekommt tatsächlich alles gezeigt.«
Er hatte versucht, es so zu sagen, als würde er mit sich selbst reden, doch ich war ziemlich weit weg von dem Platz, an dem er saß, und so war er gezwungen gewesen, die Stimme ganz unnatürlich zu erheben. Ich beschloß, nicht zu reagieren, und schlenderte weiter durch den Raum.
Nach einer Weile seufzte Boris wieder auf.
»Mutter regt sich manchmal so auf«, sagte er.
Wieder hatte er durch nichts erkennen lassen, daß er mich direkt angesprochen hatte, also reagierte ich nicht. Als ich mich schließlich umdrehte, tat er immer noch so, als wäre er in sein Buch vertieft. Ich schlenderte zur gegenüberliegenden Ecke des Raumes und sah dort ein großes, an die Wand geheftetes Blatt mit der Aufschrift »Verloren«. Es handelte sich um eine lange Liste mit Einträgen in den verschiedensten Handschriften und mit jeweils einer Spalte für das Datum, den verlorenen Gegenstand und den Namen des Besitzers. Aus irgendeinem Grund fand ich dieses Blatt Papier unterhaltsam und betrachtete es noch eine Weile. Die Einträge ganz oben auf der Liste schienen ernst gemeint zu sein – ein verlorener Füllfederhalter, eine verlorene Schachfigur, eine verlorene Brieftasche. Von der Mitte an abwärts fanden sich dann nur noch spaßige Einträge. Jemand behauptete, »drei Millionen US-Dollar« verloren zu haben. Ein weiterer Eintrag stammte von »Dschingis-Khan«, der »den asiatischen Kontinent« verloren hatte.
»Ich mag dieses Buch wirklich sehr«, sagte Boris hinter mir. »Es wird einem tatsächlich alles gezeigt.«
Plötzlich war ich mit meiner Geduld am Ende, ich ging schnell zu ihm hinüber und schlug mit der Hand auf den Tisch.
»Also hör mal, wieso liest du andauernd in diesem Ding?« fragte ich. »Was hat dir deine Mutter darüber erzählt? Ich nehme an, sie hat dir erzählt, daß es ein wundervolles Geschenk ist. Tja, das ist aber gar nicht so. Das hat sie dir wohl erzählt? Daß es ein herrliches Geschenk ist? Daß ich es
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