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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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ihr hinüber, und einen Moment standen die beiden so eng beieinander, daß sie sich fast berührten, doch Sophie schien den Jungen gar nicht zu bemerken und starrte immer weiter auf den gekrümmten Rücken des Arztes.
    Genau in diesem Moment fielen mir plötzlich wieder die vielen Dinge ein, die ich vor meinem Auftritt unbedingt noch erledigen mußte, und ich dachte, daß die Ankunft des Arztes für mich eine durchaus geeignete Gelegenheit war, mich zurückzuziehen. Leise ging ich zurück auf den Korridor und wollte mich gerade auf die Suche nach Hoffman begeben, als ich spürte, wie sich hinter mir etwas bewegte und jemand mich kräftig am Arm packte.
    »Und wo willst du jetzt schon wieder hin?« flüsterte Sophie ärgerlich.
    »Tut mir leid, aber du verstehst einfach nicht. Ich habe jetzt viel zu erledigen. Es wird eine elektronische Anzeigetafel geben, alles. So schrecklich viel hängt von mir ab.« Die ganze Zeit, während ich das sagte, versuchte ich, meinen Arm aus ihrem Griff zu befreien.
    »Aber Boris. Er braucht dich hier. Wir brauchen dich beide hier.«
    »Also hör mal, du hast offensichtlich keine Ahnung! Meine Eltern, verstehst du denn nicht? Meine Eltern werden jeden Moment ankommen! Ich habe noch tausend Sachen zu erledigen! Du hast keine Ahnung, du hast offensichtlich überhaupt keine Ahnung!« Schließlich riß ich mich los. »So hör doch, ich komme ja zurück!« rief ich in verbindlichem Ton über die Schulter, als ich davoneilte. »Ich komme zurück, sobald ich kann!«

VIERUNDDREISSIG
    Ich lief immer noch schnell den Korridor entlang, als ich mehrere Personen bemerkte, die hintereinander in einer Reihe an der Wand standen. Ich schaute genauer hin und sah, daß sie alle Arbeitsoveralls trugen und offenbar darauf warteten, in einen kleinen schwarzen Schrank zu klettern. Weil ich neugierig geworden war, ging ich langsamer, schließlich drehte ich mich um und ging zu ihnen hin.
    Der Schrank war hoch und schmal wie ein Besenschrank und ungefähr einen halben Meter über dem Boden an der Wand befestigt. Einige wenige Treppenstufen führten hinauf, und aus dem Benehmen der Leute, die Schlange standen, schloß ich, daß sich in dem Schrank vielleicht eine Toilette oder ein Trinkwasserbehälter befand. Doch als ich näher kam, sah ich, daß der Mann, der im Moment gerade ganz oben auf der Treppe stand, sich weit nach vorn gebeugt hatte, so daß sein Hinterteil vorragte, und daß er allem Anschein nach eifrig den Inhalt des Schrankes durchsuchte. Die anderen, die noch in der Schlange standen, gestikulierten unterdessen und riefen ihm ungeduldig zu, er solle sich beeilen. Als der Mann dann aus dem Schrank hervorkam und sich vorsichtig nach der obersten Treppenstufe umsah, rief einer der Männer in der Schlange etwas und zeigte in meine Richtung. Alle Köpfe wandten sich mir zu, und im nächsten Augenblick hatte sich die Schlange aufgelöst, da alle sich beeilten, Platz für mich zu machen. Der Mann, der am Schrank gewesen war, kam so schnell er konnte die Stufen herunter, dann verbeugte er sich in meine Richtung und machte eine einladende Geste zum Schrank hin.
    »Danke«, sagte ich, »aber ich glaube, da gibt es einige, die warten schon länger.«
    Es erhob sich ein Proteststurm, und mehrere Hände schoben mich praktisch die kleine Treppe hinauf.
    Die schmale Schranktür war zugefallen, und als ich sie öffnete – ich mußte sie zu mir hin aufziehen, was mich zwang, bedenklich auf der obersten Stufe zu balancieren -, entdeckte ich zu meiner Überraschung, daß ich aus enormer Höhe auf den Zuschauerraum hinabschaute. Die ganze Rückwand des Schrankes fehlte, und wäre ich leichtfertig genug gewesen, hätte ich, so sah ich jetzt, die Decke des Konzertsaales berühren können, wenn ich mich nur hinausgelehnt und ein wenig gestreckt hätte. Der Ausblick war ganz gewiß imponierend, doch das ganze Arrangement kam mir unnötig gefährlich vor. Der Schrank, wenn man es denn überhaupt einen Schrank nennen konnte, war tatsächlich nach vorn geneigt, was einen sorglosen Betrachter ermutigen mochte, sich schwankend bis an den Rand zu bewegen. Unterdessen war lediglich eine dünne Kordel in Hüfthöhe angebracht worden, um einen Sturz in den Zuschauerraum zu verhindern. Ich sah keinen offensichtlichen Grund für die Existenz des Schrankes – es sei denn als Teil irgendeines Systems, das es erlaubte, Flaggen oder ähnliches in den Saal herabhängen zu lassen.
    Ich schob die Füße vorsichtig nach vorn, bis sie

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