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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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eigentlich, welchen Belastungen ich im Moment ausgesetzt bin?«
    Mit sorgenvollem Blick drehte sich Sophie zu mir um und schien gerade etwas sagen zu wollen, doch genau in dem Moment kam Boris wieder heraus. Diesmal sah er seiner Mutter ernst ins Gesicht, sagte aber nichts.
    »Na, und, was hat er gesagt?« fragte Sophie.
    »Er sagt, er mag den Mantel wirklich sehr. Er sagt, er erinnert ihn an einen Mantel, den Mutter hatte, als sie noch klein war. Irgendwas mit der Farbe. Er sagt, auf dem Mantel war damals das Bild eines Bären. Auf dem Mantel, den Mutter damals hatte.«
    »Aber muß ich ihn ändern? Wieso gibt er mir denn darauf keine klare Antwort? Der Arzt wird jetzt bald hier sein!«
    »Du scheinst nicht zu begreifen«, unterbrach ich sie. »Da draußen sind Leute, die sich auf mich verlassen. Es wird eine elektronische Anzeigetafel geben, alles. Sie wollen, daß ich nach jeder Frage an den Bühnenrand vortrete. Das ist eine ziemliche Belastung. Du scheinst einfach nicht...«
    Ich hielt inne, als mir bewußt wurde, daß Gustav etwas rief. Sofort drehte Boris sich um und ging in die Garderobe zurück, und eine recht lange Zeit, wie mir schien, standen Sophie und ich dort zusammen und warteten darauf, daß er wieder herauskam. Als er dann endlich wiederkam, schaute der Junge keinen von uns beiden an, sondern ging an uns vorbei und blieb vor den Hoteldienern stehen.
    »Meine Herren, bitte.« Mit einer Geste deutete er auf die Tür. »Großvater möchte, daß Sie alle hereinkommen. Er möchte Sie alle jetzt bei sich haben.«
    Boris ging voraus, und nach kurzem Zögern folgten ihm eifrig die Hoteldiener. Sie gingen einer nach dem anderen an uns vorbei, und einige murmelten verlegen ein oder zwei Worte in Sophies Richtung.
    Als der letzte hineingegangen war, lugte ich in den Raum, doch wegen der Hoteldiener, die dichtgedrängt genau vor dem Eingang standen, konnte ich Gustav immer noch nicht sehen. Das Geräusch von drei oder vier gleichzeitig sprechenden Stimmen drang nach draußen, und gerade schon wollte ich noch näher herangehen, als Sophie plötzlich an mir vorbei in den Raum preschte. Es entstand ein ziemliches Gedränge, und dann legten sich die Stimmen.
    Ich ging dicht an die Tür heran. Da die Hoteldiener eine Gasse für Sophie gebildet hatten, konnte ich Gustav jetzt ganz deutlich auf seiner Matratze liegen sehen. Der braune Mantel war über seinen Oberkörper drapiert, noch über der grauen Decke, an die ich mich von vorhin noch erinnerte. Er hatte kein Kissen, und offensichtlich fehlte ihm die Kraft, den Kopf zu heben, doch er schaute gütig lächelnd seine Tochter an.
    Sophie war zwei oder drei Schritte vor der Stelle stehengeblieben, an der Gustav lag. Sie hatte mir den Rücken zugekehrt, so daß ich ihren Gesichtsausdruck nicht sehen konnte, doch sie schien auf ihn hinunterzustarren. Nach einigen Momenten des Schweigens sagte Sophie dann:
    »Kannst du dich noch an den Tag erinnern, als du in meine Schule gekommen bist? Als du mir mein Schwimmzeug gebracht hast? Ich hatte es zu Hause liegengelassen, und den ganzen Vormittag über war ich so aufgebracht gewesen, weil ich nicht genau wußte, was ich tun sollte, und dann bist du mit dem blauen Turnbeutel gekommen, diesem Beutel mit der Kordel, bis direkt ins Klassenzimmer. Weißt du noch, Papa?«
    »Dieser Mantel wird mich jetzt wärmen«, sagte Gustav. »Genau das habe ich gebraucht.«
    »Du hattest nur eine halbe Stunde Pause, also bist du den ganzen Weg vom Hotel gerannt. Du bist ins Klassenzimmer gekommen mit dem blauen Turnbeutel in der Hand.«
    »Ich bin immer so stolz auf dich gewesen.«
    »Den ganzen Vormittag über habe ich mir solche Sorgen gemacht. Ich habe nicht genau gewußt, was ich tun sollte.«
    »Das ist ein wirklich guter Mantel. Sieh dir nur den Kragen an. Und das hier, dieses ganze Stück hier herunter, ist echtes Leder.«
    »Entschuldigung«, vernahm ich eine Stimme ganz in meiner Nähe, und als ich mich umdrehte, sah ich einen jungen Mann mit Brille und einer Arzttasche, der sich hindurchzuzwängen versuchte. Dicht hinter ihm war ein weiterer Hoteldiener, den ich vom Ungarischen Café her erkannte. Die beiden betraten den Raum, und der junge Arzt eilte zu Gustav, kniete sich neben ihn und fing an, ihn zu untersuchen.
    Sophie schaute schweigend auf den Arzt hinab. Dann trat sie ein paar Schritte zurück, als wollte sie anerkennen, daß jetzt jemand anderer an der Reihe war, die Aufmerksamkeit ihres Vaters zu beanspruchen. Boris ging zu

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