Die Ungetroesteten
beide innerhalb des Schrankes waren, und dann umklammerte ich den Türrahmen mit festem Griff und warf einen Blick auf die Szene, die sich unter mir entfaltete.
Etwa drei Viertel der Plätze waren inzwischen besetzt, doch die Lichter waren noch an, und überall plauderten Leute und begrüßten einander. Manche winkten Bekannten zu, die in weiter entfernten Reihen saßen, andere standen in den Gängen und redeten und lachten. Die ganze Zeit über kamen weitere Zuschauer durch die beiden Haupteingänge herein. Die Reihen glitzernder Notenständer im Orchestergraben fingen das Licht ein, während auf der Bühne selbst – den Vorhang hatte man offengelassen – ein einsamer Flügel mit hochgeklapptem Deckel wartete. Als ich auf dieses Instrument hinuntersah, auf dem ich bald diese höchst bedeutungsvollste aller Vorstellungen geben sollte, kam mir der Gedanke, daß ich der Möglichkeit, die Bedingungen zu begutachten, wohl nicht mehr näher kommen würde als in diesem Augenblick, und wieder empfand ich große Niedergeschlagenheit angesichts der Art und Weise, in der ich seit meiner Ankunft in der Stadt meine Zeit verplant hatte.
Während ich noch weiter hinunterschaute, trat plötzlich Stephan Hoffman aus den Kulissen auf die Bühne. Es hatte keine Ankündigung gegeben, und die Lichter wurden nicht einmal geringfügig gedämpft. Darüber hinaus fehlte Stephans Gebaren jegliche Feierlichkeit und Würde. Rasch und mit besorgter Miene trat er an den Flügel, ohne in das Publikum zu schauen. Da war es dann alles andere als überraschend, daß die meisten Anwesenden im Saal gerade nur einmal gelinde Neugier zur Schau trugen und dann mit ihren Gesprächen und Begrüßungen fortfuhren. Gewiß war es für sie doch eine Überraschung, als er die aufbrausenden Anfangstakte von Glass Passions anschlug, doch selbst dann noch schien die überwiegende Mehrheit nach nur wenigen Sekunden zu dem Schluß zu kommen, daß der junge Mann lediglich den Flügel oder das Verstärkersystem testete. Nach nur wenigen Takten schien dann irgend etwas Stephans Aufmerksamkeit zu erregen, und sein Spiel verlor alle Intensität, als habe jemand plötzlich einen Stöpsel herausgezogen. Sein Blick folgte etwas, das sich durch die Menge bewegte, und am Ende war sein Kopf völlig vom Flügel weggedreht, während er spielte. Da sah ich, daß er zwei Gestalten beobachtete, die gerade den Zuschauerraum verließen, und als ich mich ein wenig weiter vorbeugte, erkannte ich gerade noch Hoffman und seine Frau, die unter mir aus meinem Blickfeld verschwanden.
Stephan hörte ganz zu spielen auf, er drehte sich auf seinem Hocker herum und starrte seinen Eltern hinterher. Dieses Verhalten schien der Menge jeglichen noch verbleibenden Zweifel daran zu nehmen, daß Stephan eine Klangprobe durchführte. Und er sah tatsächlich ganz so aus, als warte er auf Zeichen von den Tontechnikern auf der anderen Seite des Saals. Als er sich schließlich von dem Hocker erhob und von der Bühne abging, beachtete ihn niemand mehr.
Erst als er in den Kulissen war, gestattete er sich, den Gefühlen der Empörung, die jetzt auf ihn einbrandeten, auch nachzugeben. Andererseits haftete der Vorstellung, daß er die Bühne nach nur wenigen Takten verlassen hatte, im Moment auch etwas höchst Irreales an, während er die hölzernen Stufen hinunterrannte und dann durch mehrere Türen im Bühnenhinterraum lief.
Als er auf dem Korridor erschien, wimmelte es dort von hin und her laufenden Bühnenarbeitern sowie von Küchenpersonal. Stephan lief Richtung Foyer, wo er seine Eltern zu finden hoffte, doch er war noch nicht weit gegangen, da sah er seinen Vater allein und mit besorgtem Gesichtsausdruck auf sich zukommen. Der Hoteldirektor seinerseits bemerkte Stephan erst, als sie einander so nahe waren, daß sie beinahe zusammenstießen. Da blieb er stehen und starrte seinen Sohn verblüfft an.
»Was? Du spielst nicht?«
»Vater, warum seid ihr beide, Mutter und du, einfach so weggegangen? Und wo ist Mutter jetzt? Geht es ihr nicht gut?«
»Deine Mutter.« Hoffman seufzte schwer. »Deine Mutter meinte, es sei nur richtig, wenn sie jetzt gehen würde. Natürlich habe ich sie begleitet und... Tja, ich will ganz ehrlich sein, Stephan. Ich will es dir sagen. Ich neige dazu, einer Meinung mit ihr zu sein. Ich habe mich ihrem Wunsch nicht entgegengestellt. Du siehst mich so an, Stephan. Ja, ich sehe ein, ich habe dich enttäuscht. Ich hatte dir versprochen, dir diese Chance zu geben, diese
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