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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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Vermittelt einem ein ganz besonderes Gefühl, das merkt man. Das ist schon ein Unterschied, wissen Sie. Für mich ist die Spitze immer besonders wichtig. Die Spitze muß genau so sein.« Er starrte auf den Taktstock. »Es ist schon lange her, aber ich habe keine Angst. Heute abend werde ich es ihnen allen zeigen. Und ich werde keine Kompromisse eingehen. Ich gehe meinen Weg bis ans Ende. Wie Sie gesagt haben, Ryder. Max Sattler. Aber was ist dieser Mann doch für ein Schwachkopf! Dieser Idiot! Dieser Krankenhauspförtner!«
    Diese letzten Worte schrie Brodsky mit sichtlicher Genugtuung dem Spiegel entgegen, und ich sah, daß sich der Chirurg – der mit erstauntem Gesichtsausdruck von der Tür her zugesehen hatte – schüchtern zurückzog.
    Als der Chirurg endlich gegangen war, ließ Brodsky zum erstenmal Zeichen von Anspannung erkennen. Er schloß die Augen und lehnte sich schwer atmend zu der einen Seite seines Stuhls. Doch da platzte einen Augenblick später schon ein Mann in den Raum, der eine Schere vorstreckte.
    »Ach, endlich«, sagte Brodsky und nahm die Schere. Als der Mann dann gegangen war, legte Brodsky die Schere auf die Ablage vor dem Spiegel und richtete sich langsam auf. Er hievte sich an der Rückenlehne seines Stuhls hoch, dann streckte er eine Hand nach dem Bügelbrett aus, das an der Wand in der Nähe des Spiegels lehnte. Ich machte einen Schritt nach vorn, um ihm zu helfen, aber überraschend behende griff er auch ohne meine Unterstützung nach dem Bügelbrett und schob es sich unter den Arm.
    »Sehen Sie«, sagte er und schaute traurig auf das leere Hosenbein hinunter. »Da muß ich unbedingt etwas tun.«
    »Soll ich den Schneider zurückrufen?«
    »Nein, nein. Der hat doch keine Ahnung. Ich mache das schon selbst.«
    Brodsky schaute immer noch auf das leere Hosenbein hinunter. Während ich ihn beobachtete, fielen mir die verschiedenen anderen dringenden Angelegenheiten ein, um die ich mich kümmern mußte. Vor allem mußte ich zu Sophie und Boris zurück und in Erfahrung bringen, wie es jetzt um Gustav stand. Es war sogar möglich, daß eine wichtige Entscheidung Gustav betreffend bis zu meiner Rückkehr aufgeschoben worden war. Ich räusperte mich und sagte:
    »Sie haben hoffentlich nichts dagegen, Mr. Brodsky, aber ich muß jetzt gehen.«
    Brodsky schaute immer noch auf sein Hosenbein hinunter. »Es wird großartig heute abend werden, Ryder«, sagte er leise. »Sie wird schon sehen. Sie wird es endlich begreifen.«

DREIUNDDREISSIG
    Die Szene vor Gustavs Garderobe hatte sich in meiner Abwesenheit kaum verändert. Die Hoteldiener hatten sich ein Stückchen von der Tür entfernt und konferierten jetzt flüsternd am anderen Ende des Korridors. Sophie dagegen stand noch ganz so da, wie ich sie zuletzt gesehen hatte, mit dem Paket über den Armen und auf die einen Spaltbreit geöffnete Tür schauend. Einer der Hoteldiener, der meine Ankunft bemerkt hatte, kam auf mich zu und sagte mit gesenkter Stimme:
    »Er hält sich immer noch sehr tapfer, Mr. Ryder. Aber Josef ist jetzt den Arzt holen gegangen. Wir haben entschieden, daß wir damit nicht länger warten sollten.«
    Ich nickte, dann fragte ich leise, indem ich zu Sophie hinschaute: »Ist sie überhaupt noch nicht drin gewesen?«
    »Noch nicht, Mr. Ryder. Aber ich bin sicher, Fräulein Sophie wird jeden Augenblick hineingehen.«
    Wir schauten beide einen Moment lang zu ihr hinüber.
    »Und Boris?« fragte ich.
    »Oh, er ist schon ein paarmal drin gewesen.«
    »Ein paarmal?«
    »Oh, ja. Gerade im Moment ist er auch wieder drin.«
    Ich nickte wieder, dann ging ich zu Sophie. Sie hatte meine Rückkehr nicht bemerkt und schrak zusammen, als ich sie sanft an der Schulter berührte. Dann lachte sie und sagte:
    »Er ist da drin. Papa.«
    »Ja.«
    Sie veränderte ihre Haltung ein wenig und lehnte sich auf die eine Seite, um besser durch den Türspalt schauen zu können.
    »Willst du ihm denn nicht den Mantel geben?« fragte ich.
    Sophie schaute auf den Mantel hinunter und sagte dann: »Oh doch. Doch. Ich wollte gerade...« Ihre Stimme verlor sich, und sie lehnte sich wieder auf die eine Seite. Dann rief sie:
    »Boris? Boris! Komm doch mal kurz heraus.«
    Einen Moment später erschien der sehr gefaßt aussehende Boris und schloß vorsichtig hinter sich die Tür.
    »Na, und?« fragte Sophie.
    Boris warf mir kurz einen Blick zu. Dann drehte er sich wieder zu seiner Mutter um und sagte: »Großvater sagt, es tut ihm leid. Er hat gesagt, ich soll dir sagen,

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