Die Ungetroesteten
Stuttgarter Nagel-Stiftung. Das am heutigen Abend dirigiert wird von unser aller – Mr. Leo Brodsky!«
Es gab ordentlichen Beifall, als Hoffman in die Kulissen abging. Während der nächsten paar Minuten geschah nichts, dann wurde der Orchestergraben erleuchtet, und die Musiker kamen heraus. Es wurde noch einmal applaudiert, und dann folgte eine angespannte Stille, während die Mitglieder des Orchesters auf ihren Stühlen hin und her rutschten, ihre Instrumente stimmten und mit ihren Notenständern herumhantierten. Sogar die Radaugruppe unter mir schien sich dem Ernst dessen, was nun geschehen sollte, zu beugen; sie hatten ihre Spielkarten weggesteckt und saßen jetzt aufmerksam da, die Blicke nach vorn gerichtet.
Endlich war das Orchester zur Ruhe gekommen, und ein Scheinwerfer strahlte auf eine bestimmte Stelle der Bühne in der Nähe der Kulissen. Eine weitere Minute lang passierte nichts, und dann war hinter der Bühne ein hämmerndes Geräusch zu hören. Das Geräusch wurde lauter, bis schließlich Brodsky in den Lichtkegel trat. Dort blieb er stehen, vielleicht um dem Publikum Zeit zu geben, seine Ankunft zu bemerken.
Allerdings hätten viele Anwesende große Mühe gehabt, ihn zu erkennen. In seinem Abendanzug, dem leuchtendweißen Frackhemd und mit dem sorgfältig frisierten Haar war er eine imposante Erscheinung. Allerdings konnte kein Zweifel daran bestehen, daß das schäbige Bügelbrett, das er immer noch als Krücke benutzte, die Wirkung etwas schmälerte. Hinzu kam noch, daß ich, als er sich auf das Podium des Dirigenten zubewegte – bei jedem Schritt hämmerte das Bügelbrett auf dem Boden -, die Handarbeit bemerkte, die er an dem leeren Hosenbein ausgeführt hatte. Sein Wunsch, den Stoff nicht herumflattern zu lassen, war vollkommen verständlich. Aber statt den Stoff am Stumpf festzuknoten, hatte Brodsky das Hosenbein ein paar Zentimeter unterhalb des Knies wellenförmig abgeschnitten. Eine wirklich elegante Lösung, so begriff ich, war einfach nicht möglich, doch dieser Saum schien mir viel zu auffällig und nur dazu angetan, noch zusätzliche Aufmerksamkeit auf seine Verletzung zu lenken.
Und doch schien es mir, während er weiter über die Bühne ging, daß ich mich in diesem Punkt völlig geirrt hatte. Denn obwohl ich die ganze Zeit darauf wartete, daß die Menge bei der Entdeckung von Brodskys Zustand den Atem anhielt, trat dieser Moment nicht ein. Soweit ich feststellen konnte, schien das Publikum das fehlende Bein überhaupt nicht zu bemerken und einfach in angespannter Vorfreude darauf zu warten, daß Brodsky das Podium erreichte.
Vielleicht war es die Erschöpfung oder auch die Anspannung, jedenfalls schien er nicht in der Lage, sich mit dem Bügelbrett auf dieselbe geschmeidige Art vorwärtszubewegen, wie ich es bereits auf dem Korridor erlebt hatte. Er taumelte beträchtlich, und ich dachte, daß ein solcher Gang, sollte man die Verletzung nicht bemerkt haben, unweigerlich den Verdacht erwecken würde, er könnte betrunken sein. Er war noch einige Meter von dem Podium entfernt, als er stehenblieb und verärgert auf sein Bügelbrett hinuntersah – das wieder einmal, so konnte ich erkennen, gerade aufklappen wollte. Er schüttelte es, dann ging er weiter. Einige Schritte kam er noch vorwärts, dann gab etwas an dem Bügelbrett nach. Es klappte langsam unter ihm auf, und zwar gerade in dem Moment, in dem er sein Gewicht darauf stützte, und Brodsky und das Bügelbrett gingen gemeinsam zu Boden.
Die Reaktion auf diesen Vorfall war merkwürdig. Statt besorgt aufzuschreien, wie man hätte erwarten können, wahrte das Publikum während der ersten ein oder zwei Sekunden mißbilligendes Schweigen. Dann ging ein Geraune durch den Saal, eine Art kollektives »Hhm«, als ob man sich angesichts der entmutigenden Vorzeichen weitere Schlußfolgerungen vorbehalte. Auch die drei Bühnenarbeiter, die herbeikamen, um Brodsky zu helfen, taten dies mit einem sichtlichen Mangel an Eilfertigkeit, ja sogar mit einem Anflug von Widerwillen. Aber wie auch immer, bevor sie ihn noch erreichten, schrie Brodsky, während er damit beschäftigt war, sich von dem Bügelbrett zu befreien, ihnen ärgerlich vom Boden aus zu, sie sollten weggehen. Die drei Männer blieben wie angewurzelt stehen, dann starrten sie Brodsky an, mit einem Blick, in dem eine gewisse morbide Faszination zu erkennen war.
Brodsky kämpfte noch eine Weile auf dem Boden weiter. Zuweilen schien er aufstehen zu wollen, dann wieder sah es so
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