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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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geworden war. Mindestens zwanzig Personen standen jetzt dort und warteten, und ich hatte irgendwie ein schlechtes Gewissen, weil ich nun doch so lange geblieben war. Alle in der Schlange redeten aufgeregt durcheinander, verfielen aber sofort in Schweigen, als sie mich sahen. Ich brummelte eine Entschuldigung, als ich die Stufen hinunterging, dann machte ich mich eilends auf den Weg den Korridor hinunter, genau in dem Augenblick, als der nächste in der Reihe eifrig die Stufen hinaufkletterte, auf den Eingang des Schrankes zu.
    Auf dem Korridor war es viel ruhiger als vorher, was größtenteils daran lag, daß die Aktivitäten des Küchenpersonals sich vorübergehend beruhigt hatten. Alle paar Meter kam ich an einem vollbeladenen Servierwagen vorbei. An manchen lehnten Männer in Overalls, sie rauchten und tranken Kaffee aus Styroporbechern. Als ich schließlich stehenblieb und einen dieser Männer nach dem schnellsten Weg in den Saal fragte, deutete er einfach nur auf eine Tür hinter mir. Ich bedankte mich, zog die Tür auf und stand vor einer schlecht beleuchteten Treppe.
    Ich stieg mindestens fünf Treppenläufe hinab. Dann stieß ich eine schwere Drehtür auf und ging durch einen düsteren Teil des Bühnenhintergrunds weiter. In dem dämmrigen Licht erkannte ich gemalte Kulissenteile – ein Schloß, ein von Mondlicht erhellter Himmel, ein Wald -, die an der Wand lehnten. Über mir sah ich ein Gewirr von Stahltrossen. Das Orchester war jetzt ganz deutlich zu hören, und ich bewegte mich auf die Musik zu und tat mein möglichstes, nicht gegen einen der vielen kistenartigen Gegenstände zu stoßen, die in meinem Weg standen. Nachdem ich schließlich eine Holztreppe hinaufgegangen war, wurde mir bewußt, daß ich direkt hinter der Bühne stand. Ich wollte schon wieder zurückgehen – ich hatte gehofft, diskret irgendwo in der Nähe des Parketts herauszukommen -, doch da war etwas an der Musik, die mich nicht losließ, etwas Problematisches, das vorher nicht dagewesen war und das mich veranlaßte stehenzubleiben.
    Ich blieb stehen und hörte etwa eine Minute lang zu, dann machte ich einen Schritt nach vorn und schaute hinter dem schweren, faltigen Vorhang hervor. Das tat ich natürlich mit beträchtlicher Vorsicht – selbstverständlich wollte ich um jeden Preis vermeiden, daß die Zuschauer mein Gesicht sahen und zu applaudieren anfingen -, nur um zu entdecken, daß ich aus einem sehr scharfen Winkel auf Brodsky und das Orchester schaute. Es war also sehr unwahrscheinlich, daß die Zuschauer mich sehen konnten.
    Ich begriff, daß sich in der Zeit, in der ich durch das Gebäude gewandert war, viel geändert hatte. Brodsky, so vermutete ich, hatte das Ganze zu weit getrieben, denn im Klang des Orchesters war jetzt jenes Zögern in der Technik zu spüren, das so oft Zeichen für die mangelnde Übereinstimmung zwischen Dirigent und Musikern ist. Auf den Gesichtern der Musiker – ich konnte sie jetzt erstmals ganz aus der Nähe sehen – spiegelten sich Ungläubigkeit, Kummer, ja sogar Abscheu. Während sich meine Augen dann immer mehr an den Glanz der Scheinwerfer gewöhnten, schaute ich am Orchester vorbei auf die Zuschauer. Ich konnte nur die ersten Reihen erkennen, doch es war offensichtlich, daß die Leute jetzt besorgte Blicke wechselten, sich nervös räusperten und den Kopf schüttelten. Eine Frau stand gerade auf, um den Saal zu verlassen. Doch ungerührt dirigierte Brodsky weiter, er schien sogar bestrebt, noch weiter zu gehen. Dann sah ich, daß zwei Cellisten sich kopfschüttelnd ansahen. Das war ein untrügliches Zeichen für Meuterei, was Brodsky zweifellos bemerkte. Er dirigierte jetzt fast manisch, und die Musik bewegte sich gefährlich am Rande des Wahnsinns.
    Bis zu diesem Augenblick hatte ich Brodskys Gesichtsausdruck nicht sehr gut erkennen können – ich sah ihn meist von hinten -, doch als er sich immer heftiger drehte und wendete, sah ich sein Gesicht dann deutlicher. Erst da dämmerte es mir, daß noch etwas ganz anderes Brodskys Benehmen beeinflußte. Ich musterte ihn erneut – die Art, wie sich sein Körper in einem ganz eigenen Rhythmus drehte und verkrampfte -, und ich begriff, daß Brodsky unter großen Schmerzen litt und das wahrscheinlich schon seit einer geraumen Weile. Als ich das erst einmal bemerkt hatte, waren die Anzeichen untrüglich. Er schaffte es nur noch mit letzter Kraft weiterzumachen, und sein Gesicht war nicht nur vor Inbrunst verzerrt.
    Ich fühlte mich verpflichtet,

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