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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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ständig steigern, wobei er die ganze Zeit sein übertrieben langsames Tempo wahrte. Dann gelangte er mit dem zwölften Takt an die Stelle, an der die Musik gleichsam explodiert und dann in Wellen wieder abebbt. Eine Art Seufzer ging durch das Publikum, dann begann die Musik fast sofort wieder, sich emporzuschwingen.
    Gelegentlich stützte sich Brodsky mit der freien Hand ab, doch in dieser Phase war er in eine tiefere Schicht seiner selbst vorgedrungen und schien in der Lage zu sein, sein Gleichgewicht ohne große zusätzliche Stütze zu halten. Er wiegte den Oberkörper hin und her. Leidenschaftlich schwenkte er die Arme durch die Luft. Während der Anfangspassagen des ersten Satzes bemerkte ich, wie einige Orchestermitglieder mit schuldbewußtem Blick ins Publikum schauten, als wollten sie sagen: »Ja, tatsächlich, das verlangt er von uns!« Doch nach und nach versenkten sich die Musiker in Brodskys Vision. Zuerst ließen sich die Geiger mitreißen, und dann sah ich, daß mehr und mehr Musiker ganz in ihrem Spiel aufgingen. Als Brodsky sie dann in die Melancholie des zweiten Satzes hineingeführt hatte, schien das Orchester seine Autorität gänzlich akzeptiert zu haben. Auch das Publikum hatte inzwischen seine Ruhelosigkeit abgelegt und saß da wie versteinert.
    Brodsky nutzte die freiere Form des zweiten Satzes, um immer ungewöhnlichere Interpretationen zu wagen, und auch meine Faszination wuchs zusehends – sosehr ich auch an jeden nur denkbaren Aspekt bei Mullery gewöhnt war. Auf fast widernatürliche Weise ignorierte er die äußere Struktur der Musik – die Verbeugungen des Komponisten vor Tonalität und Melodik, die die Oberfläche des Werkes zierten -, um sich statt dessen auf die merkwürdigen Impulse zu konzentrieren, die sich dicht unter der äußeren Schale verbargen. Dem Ganzen haftete etwas leicht Schmuddeliges an, etwas, das an Exhibitionismus denken ließ und das nahelegte, daß Brodsky selbst zutiefst peinlich berührt war von dem, was er da zutage förderte, und doch konnte er dem Drang nicht widerstehen, noch weiter zu gehen. Die Wirkung war nervenaufreibend, aber unwiderstehlich.
    Wieder betrachtete ich die Menge unter mir. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, daß dieses Provinzpublikum von Brodsky gefangengenommen war, und ich hielt es durchaus für möglich, daß meine Frage-und-Antwort-Runde sich nicht als so knifflig erweisen würde, wie ich befürchtet hatte. Wenn es Brodsky gelungen war, das Publikum mit dieser Darbietung für sich zu gewinnen, dann war es bestimmt nicht mehr von so entscheidender Bedeutung, wie ich die Fragen beantwortete. Meine Aufgabe würde es im wesentlichen sein, etwas zu bekräftigen, wovon das Publikum schon überzeugt war – obwohl ich so schlecht vorbereitet war, sah es also aus, als könnte ich meinen Pflichten in völlig angemessener Weise gerecht werden, und zwar mit einigen diplomatischen, gelegentlich humorigen Bemerkungen. Wenn Brodsky andererseits das Publikum aufgewühlt und unentschlossen zurückließ, würde ich, ungeachtet meines Ranges und meiner Erfahrung, hart arbeiten müssen. Die Stimmung im Saal war immer noch von Unbehagen gekennzeichnet, und während ich jetzt an die zornige Unruhe des dritten Satzes dachte, fragte ich mich, was wohl geschehen mochte, wenn Brodsky mit diesem Teil des Stückes begann.
    Erst in diesem Augenblick fiel mir plötzlich ein, das Publikum nach meinen Eltern abzusuchen. Aber da ich sie bisher nicht gesehen hatte, war die Wahrscheinlichkeit, jetzt plötzlich ihre Gesichter unter mir zu entdecken, wohl eher klein. Dennoch beugte ich mich nach vorn, dabei fast alle Vorsicht außer acht lassend, und ließ meinen Blick über die Zuschauer schweifen. Es gab gewisse Bereiche des Saales, die ich nicht einsehen konnte, sosehr ich mir auch den Hals verrenkte, und ich begriff, daß ich früher oder später in den Saal hinuntergehen mußte. Sollte es mir dann immer noch nicht gelingen, meine Eltern zu finden, könnte ich wenigstens versuchen, Hoffman oder Miss Stratmann aufzuspüren, und sie fragen, wo sich meine Eltern befanden. Aber wie auch immer, ich sah ein, daß ich es mir nicht leisten konnte, noch mehr Zeit damit zu verschwenden, die Vorgänge von meinem gegenwärtigen Aussichtspunkt zu beobachten, und so drehte ich mich vorsichtig um und machte mich daran, aus dem Schrank herauszuklettern.

    Als ich wieder auf die oberste Stufe der kleinen Treppe hinaustrat, sah ich, daß die Schlange hinter mir sehr viel länger

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