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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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kahlköpfige Mann schließlich das Wort ergriff, sprach er viel zu dicht am Mikrofon, und seine Stimme dröhnte und zitterte.
    »Ich möchte Ihnen heute abend eine Auswahl von Werken aus allen dreien meiner Schaffensperioden vorstellen. Viele Gedichte werden Sie schon aus meinen Lesungen im Café Adele kennen, aber ich bin sicher, Sie werden nichts dagegen haben, sie in diesem bedeutenden Rahmen noch einmal zu hören. Und ich darf Ihnen jetzt schon sagen, daß es am Ende eine kleine Überraschung geben wird. Etwas, von dem ich sicher bin, daß es Ihnen ein wenig Freude bereitet.«
    Dann fing er wieder an, seine Papiere hin und her zu schieben, und hier und da begannen die Zuschauer, sich flüsternd zu unterhalten. Dann war der kahlköpfige Mann endlich soweit. Er räusperte sich laut in das Mikrofon, und es wurde wieder still.
    Viele der Gedichte waren gereimt und relativ kurz. Es waren Gedichte über Fische im Stadtpark, über Schneestürme – über zerbrochene Fenster, die Kindheitserinnerungen wachriefen -, und alle wurden sie in einem merkwürdig hohen Singsangton vorgetragen. Ein paar Minuten lang schweifte meine Aufmerksamkeit ab, und dann wurde mir bewußt, daß ein Teil des Publikums irgendwo direkt unter mir angefangen hatte, sich recht lautstark zu unterhalten.
    Im Moment waren die Stimmen noch recht diskret, doch sogar während ich noch zuhörte, schienen sie dreister zu werden. Während der kahlköpfige Mann ein langes Gedicht über die Katzen seiner Mutter rezitierte, war immer deutlicher der Lärm einer ziemlich großen Gruppe zu hören, die sich in mehr oder weniger normaler Lautstärke unterhielt. Ich überwand meine Vorsicht und bewegte mich ganz an den Rand des Schranks, und indem ich mich mit beiden Händen an dem Holzrahmen festhielt, lugte ich hinunter.
    Die Gruppe saß direkt unter mir, aber die Zahl der am Gespräch Beteiligten war kleiner, als ich vermutet hatte. Sieben oder acht Leute hatten offenbar beschlossen, dem Dichter keine Aufmerksamkeit mehr zu schenken, und unterhielten sich jetzt gutgelaunt miteinander, wobei sich einige ganz auf ihren Sitzen herumgedreht hatten. Ich wollte mir diese Gruppe gerade schon näher ansehen, da fiel mein Blick auf Miss Collins, die einige Reihen dahinter saß.
    Sie trug das elegante schwarze Abendkleid, das sie bei dem Bankett am ersten Abend getragen hatte, die Stola hatte sie immer noch um die Schultern. Teilnahmsvoll schaute sie auf den kahlköpfigen Mann, den Kopf hatte sie leicht zur Seite geneigt, einen Finger an das Kinn gehoben. Ich beobachtete sie noch eine ganze Weile, aber in ihrer Erscheinung gab es nicht das geringste, das darauf schließen ließ, sie könne irgend etwas anderes als heiter und gelassen sein.
    Mein Blick kehrte zu der Radaugruppe unter mir zurück, und ich bemerkte, daß inzwischen Spielkarten herumgereicht wurden. Erst da wurde mir bewußt, daß der Kern dieser Gruppe aus den Betrunkenen bestand, die ich an meinem ersten Abend in dem Kino und dann kürzlich wieder auf dem Korridor getroffen hatte.
    Das Kartenspiel wurde immer ausgelassener, bis die ganze Gruppe in Jubelrufe und kreischendes Gelächter ausbrach. Mißbilligende Blicke wurden in ihre Richtung geworfen, doch dann begannen allmählich mehr und mehr Leute in dem Saal, sich zu unterhalten, wenn auch in gemäßigterer Lautstärke.
    Der kahlköpfige Mann gab durch nichts zu erkennen, daß er etwas davon bemerkte, und fuhr fort, Gedicht um Gedicht ernsthaft vorzutragen. Etwa zwanzig Minuten, nachdem er die Bühne betreten hatte, machte er eine Pause, und indem er einige Blätter zusammensammelte, sagte er:
    »Und damit kommen wir zu meiner zweiten Schaffensperiode. Wie einige von Ihnen ja sicherlich bereits wissen, wurde meine zweite Schaffensperiode durch ein Schlüsselerlebnis eingeleitet. Ein Erlebnis, das es mir nicht länger erlaubte, mit demselben handwerklichen Rüstzeug, dessen ich mich bisher bedient hatte, künstlerisch tätig zu sein. Bei diesem Erlebnis handelt es sich um die Entdeckung, daß mir meine Frau untreu geworden war.«
    Er ließ den Kopf fallen, als bereite ihm die Erinnerung immer noch Schmerzen. Da rief dann plötzlich einer aus der Gruppe unter mir:
    »Also hat er sich offensichtlich wirklich des falschen handwerklichen Rüstzeugs bedient!«
    Seine Begleiter lachten alle, dann rief ein anderer:
    »Nur ein schlechter Handwerker gibt seinem Handwerkszeug die Schuld.«
    »Und seine Frau scheint das auch gemacht zu haben«, sagte der erste

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