Die Ungetroesteten
wieder.
Dieser Wortwechsel, offensichtlich mit der Absicht geführt, daß so viele Leute wie möglich ihn hören sollten, löste reichliches Gekicher aus. Es war schwer zu sagen, wieviel davon der kahlköpfige Mann auf der Bühne mitbekommen hatte, doch er hielt inne, und ohne in die Richtung der Zwischenrufer zu schauen, fing er wieder an, seine Papiere hin und her zu schieben. Sollte er beabsichtigt haben, noch weitere einleitende Erklärungen zu seiner zweiten Schaffensperiode abzugeben, so ließ er diese Idee jetzt fallen und begann wieder zu rezitieren.
Die zweite Schaffensperiode des kahlköpfigen Mannes unterschied sich nicht wesentlich von seiner ersten, und die Unruhe im Publikum wuchs. Und zwar so sehr, daß ein beträchtlicher Teil des Saales, als einer der Betrunkenen nach einigen weiteren Minuten etwas sagte, das ich nicht verstand, in offenes Gelächter ausbrach. Erst jetzt schien der kahlköpfige Mann zu bemerken, daß er das Publikum nicht mehr unter Kontrolle hatte, er schaute mitten im Satz hoch und blinzelte wie unter Schock in die Lichter. Eine naheliegende Lösung wäre gewesen, die Bühne zu verlassen. Eine etwas würdevollere Alternative hätte sein können, vor seinem Abgang noch drei oder vier Gedichte zu lesen. Doch der kahlköpfige Mann entschied sich für etwas völlig anderes. In panikartiger Geschwindigkeit begann er wieder zu lesen, offenbar in der Absicht, sein geplantes Programm so schnell wie möglich abzuspulen. Das führte nicht nur dazu, daß man ihn kaum mehr verstand, es stachelte darüber hinaus seine Gegner noch weiter an, die nun sahen, daß sie ihn in die Defensive gezwungen hatten. Mehr und mehr Bemerkungen wurden herausgeschrien – und das nicht nur von der Gruppe unter mir -, die jedesmal im ganzen Saal mit Gelächter quittiert wurden.
Dann machte der kahlköpfige Mann schließlich einen Versuch, die Kontrolle über das Publikum zurückzugewinnen. Er legte seinen Hefter beiseite, und ohne ein Wort zu sagen, starrte er bittend vom Rednerpult in den Saal hinab. Die Zuschauer, von denen viele gelacht hatten, wurden jetzt ruhiger – vielleicht aus Neugier ebensosehr wie aus schlechtem Gewissen. Als der kahlköpfige Mann dann endlich sprach, hatte seine Stimme ein gewisses Maß an Autorität wiedererlangt.
»Ich habe Ihnen eine Überraschung versprochen«, sagte er. »Hier ist sie also. Ein neues Gedicht. Ich habe es erst vor einer Woche fertiggestellt. Ich habe es ausdrücklich für dieses großartige Ereignis heute abend verfaßt. Es heißt ganz schlicht ›Brodsky, der Bezwinger‹. Wenn Sie mir gestatten würden.«
Der Mann schob noch einmal seine Papiere hin und her, doch diesmal blieb das Publikum ruhig. Dann lehnte er sich vor und begann mit seinem Vortrag. Nach den ersten paar Zeilen schaute er schnell hoch und schien überrascht darüber, daß der ganze Saal ruhig geblieben war. Er las weiter, und dabei wuchs sein Selbstvertrauen mehr und mehr, so daß er kurz darauf in weit ausholenden Gesten die Hände schwenkte, um den Schlüsselstellen Nachdruck zu verleihen.
Ich hatte mir vorgestellt, das Gedicht würde ein umfassendes Porträt Brodskys zeichnen, doch bald schon wurde klar, daß es sich einzig und allein mit Brodskys Kämpfen gegen den Alkohol befaßte. Die Anfangsstrophen enthielten Vergleiche zwischen Brodsky und einer Vielzahl mythischer Helden. Bilder wurden entworfen, in denen Brodsky von einer Hügelspitze aus einer angreifenden Armee Speere entgegenschleuderte, Bilder, in denen Brodsky mit einem Meeresuntier rang, und Bilder, in denen Brodsky an einen Felsen geschmiedet war. Das Publikum hörte weiterhin mit respektvoller, ja feierlicher Haltung zu. Ich schaute zu Miss Collins, konnte aber in ihrem Benehmen keinerlei offenkundige Veränderung bemerken. Sie beobachtete den Dichter weiterhin mit interessierter, doch distanzierter Miene, einen Finger hatte sie noch immer seitlich ans Kinn gelegt.
Nach mehreren Minuten bekam das Gedicht einen neuen Tenor. Die Motive aus der Mythologie wurden fallengelassen, statt dessen wurde geballt auf tatsächliche Vorfälle aus jüngster Vergangenheit angespielt, an denen Brodsky beteiligt gewesen war – Vorfälle, die, soweit ich das erraten konnte, am Ort inzwischen zu Legenden geworden waren. Die meisten dieser Anspielungen entgingen mir natürlich, doch ich erkannte, daß das Gedicht versuchte, Brodskys Rolle in diesen Episoden mit neuen Augen zu betrachten und aufzuwerten. Literarisch erschien mir dieser
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