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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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Teil des Gedichts als große Verbesserung gegenüber dem vorherigen, doch die Einführung solch konkreter und vertrauter Zusammenhänge bewirkte, daß jeglicher Einfluß verlorenging, den der kahlköpfige Mann inzwischen auf das Publikum erlangt haben mochte. Eine Anspielung auf die »Bushaltestellen-Tragödie« löste erneutes Gekicher aus, das sich immer weiter verbreitete, als erwähnt wurde, wie Brodsky, »zahlenmäßig unterlegen und angeschlagen, schließlich gezwungen wurde, sich hinter der Telefonzelle zu ergeben«. Doch erst als der kahlköpfige Mann von »einer glanzvollen Zurschaustellung von Mut beim Schulausflug« sprach, brach der gesamte Saal, wie aus einem Mund, in Gelächter aus.
    Von diesem Moment an war es mir klar, daß nichts den kahlköpfigen Mann mehr retten konnte. Die Schlußstrophen, die einer Lobpreisung von Brodskys neugewonnener Nüchternheit gewidmet waren, wurden praktisch nach jeder Zeile mit wahren Lachsalven quittiert. Als ich wieder zu Miss Collins hinüberschaute, sah ich, daß der Finger an ihrem Kinn schnelle streichelnde Bewegungen vollführte, doch ansonsten wirkte sie genauso ruhig und gefaßt wie zuvor. Der kahlköpfige Mann, den man über dem Gelächter und den Zwischenrufen kaum noch hörte, kam schließlich zum Ende, und nachdem er empört seine Papiere zusammengesammelt hatte, stolzierte er von der Bühne. Einige Zuhörer, die möglicherweise der Meinung waren, das Ganze könne ein wenig zu weit gegangen sein, spendeten recht großzügigen Applaus.
    Während der nächsten Minuten blieb die Bühne leer, und bald unterhielt sich das Publikum wieder mit voller Lautstärke. Ich beobachtete die Gesichter unter mir und nahm interessiert zur Kenntnis, daß zwar viele Leute fröhliche Blicke tauschten, andere jedoch ärgerlich zu sein schienen und heftig gestikulierten. Dann fiel das Scheinwerferlicht wieder auf die Bühne, und Hoffman erschien.
    Der Hoteldirektor sah wütend aus und lief ohne Umstände zu dem Rednerpult.
    »Meine Damen und Herren, bitte!« rief er, auch dann noch, als die Menge sich allmählich beruhigte. »Bitte! Ich möchte Sie doch sehr bitten, die Bedeutung des heutigen Abends nicht zu vergessen. Um Herrn von Winterstein zu zitieren, wir sind nicht hier zusammengekommen, um einer Kabarettvorstellung beizuwohnen!«
    Die Heftigkeit dieses Vorwurfs mißfiel einigen ganz deutlich, und ein ironisches »Oho« kam von der Gruppe unter mir. Doch Hoffman fuhr fort:
    »Ganz besonders schockiert es mich, feststellen zu müssen, daß so viele von Ihnen an dieser völlig überholten Meinung zu Mr. Brodsky festzuhalten beharren. Ganz abgesehen von den anderen großen Verdiensten von Herrn Zieglers Gedicht kann man doch seine zentrale These, daß Mr. Brodsky nämlich ein für allemal die Dämonen bezwungen hat, die ihn einst heimgesucht haben, nicht in Zweifel ziehen. Diejenigen unter Ihnen, die gerade eben über Herrn Zieglers beredte Ausführungen zu diesem Punkt gelacht haben, werden, und dessen bin ich sicher, in Kürze – ja noch innerhalb der nächsten Augenblicke! – darüber tief beschämt sein. Jawohl, beschämt! So beschämt, wie ich vor kaum einer Minute stellvertretend für die ganze Stadt gewesen bin!«
    Er hämmerte auf das Rednerpult, während er das sagte, und ein überraschend großer Anteil des Publikums brach in selbstgefälligen Beifall aus. Hoffman, spürbar erleichtert, doch offensichtlich unsicher, wie er nun reagieren sollte, machte mehrere unbeholfene Verbeugungen. Bevor dann der Beifall noch gänzlich erstorben war, faßte er sich wieder und sprach laut in das Mikrofon:
    »Mr. Brodsky hat es in jeder Hinsicht verdient, als eine herausragende Persönlichkeit in unserer Gemeinde zu gelten! Als geistiger und kultureller Urquell, an dem unsere Jugend sich labt. Als leuchtendes Vorbild für all jene unter uns, die vielleicht alt an Jahren, aber doch in diesen dunklen Kapiteln der Geschichte unserer Stadt einsam und verloren sind. Das hat Mr. Brodsky in jeder Hinsicht verdient! Hier, sehen Sie mich doch an! Ich setze meinen guten Ruf, meine Glaubwürdigkeit auf das, was ich Ihnen jetzt sage! Aber wozu meine Worte? In kürzester Zeit werden Sie es mit eigenen Augen sehen und mit eigenen Ohren hören. Dies ist kaum die Einführung, die ich zu halten gedachte, und ich bedaure, daß ich dazu gezwungen wurde. Aber wir wollen uns nicht länger unnötig aufhalten. Lassen Sie mich unsere hochgeschätzten Gäste auf die Bühne bitten, das Orchester der

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