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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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nur noch ein paar Minuten und dann sage ich es ihm, aber nein, nein, ich konnte nicht, und er ist seinen Weg gegangen. Jawohl, unser Stephan, er ist dort vor die ganze Welt getreten und hat Klavier gespielt! Sich lächerlich gemacht! Ach, und wenn das wenigstens alles wäre! Alle Welt, die ganze Stadt weiß, wer für die Vorkommnisse des heutigen Abends verantwortlich ist. Und die ganze Stadt weiß, wer die Verantwortung für Mr. Brodskys Genesung übernommen hat. Na schön, na schön, ich leugne es ja gar nicht, ich habe versagt, ich habe es nicht geschafft, ihn wieder auf die Beine zu bringen. Der Mann ist ein Trunkenbold, ich hätte sehen müssen, wie sinnlos es von Anfang an gewesen ist. Der ganze Abend bricht um uns zusammen, während wir hier reden. Sogar Mr. Ryder hier, sogar er kann ihn nicht mehr retten. Er trägt nur noch zu unseren Problemen bei. Der beste Pianist der Welt, und wozu bringe ich ihn her? Damit er an dieser Schmach teilnimmt? Wieso hat man mir bloß gestattet, meine ungeschickten Hände auch nur in die Nähe solch geheiligter Dinge wie Musik, Kunst, Kultur zu bringen? Du stammst aus einer talentierten Familie, du hättest jeden Beliebigen heiraten können. Was für einen Fehler du gemacht hast. Was für eine Tragödie. Aber noch ist es nicht zu spät für dich. Du bist immer noch schön. Also worauf wartest du noch? Was für einen Beweis brauchst du denn noch? Verlaß mich. Verlaß mich. Such dir jemanden, der deiner würdig ist. Einen Kosminsky, einen Hallier, einen Ryder, einen Leonhardt. Wie konnte es nur dazu kommen, daß du einen solchen Fehler gemacht hast? Verlaß mich, ich bitte dich, verlaß mich. Begreifst du denn überhaupt, wie abscheulich es ist, dein Gefängniswärter zu sein? Nein, schlimmer noch, die Kette mit der Kugel um deinen Knöchel? Verlaß mich, verlaß mich« – plötzlich beugte Hoffman sich vor, und indem er die Faust an die Stirn hob, vollführte er die Bewegung, die ich ihn vorher hatte üben sehen.
    »Meine Liebe, meine Liebe, verlaß mich. Ich bin in einer untragbaren Situation. Nach heute abend ist es mit meiner Verstellung endlich vorbei. Sie werden es alle erfahren, bis hin zum kleinsten Kind in der Stadt. Von heute abend an werden sie, wenn sie mich wie gehetzt meinen Geschäften nachgehen sehen, alle wissen, daß ich nichts habe: weder Talent noch Sensibilität, noch Raffinesse. Verlaß mich, verlaß mich. Ich bin nur ein Hornochse, ein Hornochse, ein Hornochse!«
    Er führte noch einmal seine Bewegung aus, der Ellenbogen ragte merkwürdig vor, als er sich vor die Stirn schlug. Dann sank er auf die Knie und begann zu schluchzen.
    »Eine einzige Katastrophe«, murmelte er zwischen seinen Schluchzern. »Alles ist eine einzige Katastrophe.«
    Mrs. Hoffman hatte sich inzwischen umgedreht und beobachtete ihren Mann aufmerksam. Sein Ausbruch schien sie nicht im geringsten zu überraschen, und ihr Blick war jetzt voller Zärtlichkeit, ja fast voller Sehnsucht. Sie machte einen zögerlichen Schritt, und dann noch einen, auf Hoffmans vornübergebeugte Gestalt zu. Dann streckte sie langsam eine Hand aus, als ob sie sanft über seinen Kopf streichen wollte. Die Hand schwebte eine Sekunde über Hoffman, aber sie berührte ihn nicht, und dann zog sie sie zurück. Im nächsten Moment hatte sie auf dem Absatz kehrtgemacht und verschwand den Korridor hinunter.
    Hoffman schluchzte weiter, offensichtlich hatte er nichts von den Bewegungen seiner Frau bemerkt. Ich beobachtete ihn noch eine Weile und war unschlüssig, was ich als nächstes tun sollte. Dann wurde mir plötzlich klar, daß ich jetzt wohl zu meinem Auftritt auf die Bühne mußte. Und in einer heftigen Gefühlsaufwallung erinnerte ich mich daran, daß es mir bisher nicht gelungen war, irgendwo im Gebäude auch nur ein einziges Anzeichen für die Anwesenheit meiner Eltern zu entdecken. Meine Gefühle Hoffman gegenüber, die bis zu diesem Augenblick dem Mitleid recht nahegekommen waren, wandelten sich plötzlich, und so ging ich zu ihm hin und schrie ihm ins Ohr:
    »Also, Mr. Hoffman, es mag ja sein, daß Sie aus Ihrem Abend eine einzige Katastrophe gemacht haben. Aber ich werde mich nicht mit Ihnen hinunterziehen lassen. Ich habe vor, dort hinauszugehen und meinen Auftritt zu absolvieren. Ich werde mein möglichstes tun, um in diese ganzen Vorkommnisse wieder ein wenig Ordnung zu bringen. Aber zuerst einmal, Mr. Hoffman, will ich es ein für allemal von Ihnen wissen. Was ist aus meinen Eltern geworden?«
    Hoffman

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