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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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hatte. Das Essen hatte ruhig begonnen. Dann hatte sein Vater – ein wenig unvermittelt, wie Stephan fand – damit angefangen, eine witzige Anekdote über eine Gruppe italienischer Hotelgäste zu erzählen. Als er zum Ende gekommen war, hatte der Hoteldirektor gedrängt, Stephan möge eine eigene Geschichte erzählen; und als Stephan etwas unsicher begonnen hatte, war ihm sein Vater mit übertriebenem Gelächter immer wieder zu Hilfe gekommen. So hatten Stephan und sein Vater weitergemacht, hatten sich damit abgewechselt, amüsante Geschichten zu erzählen und sich gegenseitig mit herzlichen Reaktionen zu Hilfe zu kommen. Die Taktik schien Erfolg zu haben, denn schließlich – Stephan hatte es kaum glauben können – hatte auch seine Mutter angefangen, langanhaltend zu lachen. Hinzu kam, daß das Essen selbst mit der für den Hoteldirektor so typischen besessenen Liebe zum Detail zubereitet und eine höchst erstaunliche kulinarische Glanzleistung gewesen war. Der Wein war offensichtlich ganz besonders erlesen, und mitten beim Hauptgericht – eine exquisite Komposition aus Gans mit wilden Beeren -, war die Stimmung dieses Abends von aufrichtiger Fröhlichkeit gewesen. Dann hatte sich der Hoteldirektor, der vom vielen Wein und vor lauter Lachen ganz rosa im Gesicht war, herübergelehnt und gesagt:
    »Ach, Stephan, erzähl uns doch von der Jugendherberge, in der du übernachtet hast. Du weißt schon, die in den Wäldern des Burgund.«
    Eine Sekunde lang war Stephan entsetzt gewesen. Wie konnte sein Vater, der bisher alles so makellos inszeniert hatte, die Lage so offensichtlich falsch einschätzen? Die Geschichte, auf die er sich bezog, enthielt ausgedehnte Anspielungen auf die Toiletten der Jugendherberge und war ganz eindeutig nicht geeignet, vor seiner Mutter erzählt zu werden. Doch während er noch zögerte, hatte sein Vater ihm zugezwinkert, als ob er sagen wollte: »Ja, ja, verlaß dich nur auf mich, das wird schon funktionieren. Die Geschichte wird ihr gefallen, sie wird ein voller Erfolg.« Sosehr er auch gezweifelt hatte, war doch Stephans Vertrauen in seinen Vater so groß gewesen, daß er mit der Anekdote begonnen hatte. Doch er war noch nicht weit damit gediehen, als ihm der Gedanke in den Sinn kam, daß es mit dem Abend, der so erstaunlich erfolgreich begonnen hatte, jetzt ein schlimmes Ende nehmen würde. Doch angestachelt durch das schallende Gelächter seines Vaters hatte er weitererzählt, und dann hatte er zu seinem großen Erstaunen das freimütige Lachen seiner Mutter gehört. Er hatte an das andere Ende des Tisches geschaut und gesehen, wie seine Mutter sich nicht hatte beherrschen können und den Kopf geschüttelt hatte. Gegen Ende seiner Geschichte, mitten in all dem Gelächter, hatte Stephan dann gerade noch gesehen, wie seine Mutter seinem Vater einen liebevollen Blick zugeworfen hatte. Es war nur ein ganz kurzer Blick gewesen, aber er hatte sich nicht getäuscht. Und obwohl dem Hoteldirektor vor lauter Lachen die Tränen in den Augen standen, war auch ihm dieser Blick nicht entgangen, und er hatte sich zu seinem Sohn umgedreht und ihm noch einmal zugezwinkert, diesmal voller Triumph. In dem Augenblick hatte der junge Mann gespürt, wie etwas sehr Mächtiges in seiner Brust angeschwollen war. Doch bevor er noch Zeit gehabt hätte, dieses Gefühl eindeutig zu bestimmen, hatte sein Vater zu ihm gesagt:
    »Also, Stephan, vor dem Dessert müssen wir ein kleines Päuschen machen. Warum spielst du nicht etwas für deine Mutter zum Geburtstag?« Während er das sagte, hatte der Hoteldirektor zum Klavier an der Wand gedeutet.
    Diese Geste – dieses beiläufige Deuten auf das Klavier im Eßzimmer – war etwas, woran sich Stephan während der nächsten Jahre wieder und immer wieder erinnern sollte. Und jedesmal, wenn er daran dachte, stellte sich auch dieses gräßliche Frösteln wieder ein, das er in dem Augenblick verspürt hatte. Zuerst hatte er seinen Vater ungläubig angesehen, doch der hatte einfach nur immer weiter voller Zufriedenheit gelächelt und seine Hand in Richtung Klavier ausgestreckt.
    »Ach, komm schon, Stephan. Irgend etwas, das deiner Mutter gefallen würde. Etwas von Bach vielleicht. Oder etwas Zeitgenössisches. Eventuell Kazan. Oder Mullery.«
    Der junge Mann hatte mit aller Kraft so lange die Augen verdreht, bis sie auch die Mutter erblickten, und er hatte gesehen, daß seine Mutter, deren Gesicht durch die ungewohnten Lachfältchen ganz weich geworden war, ihn anlächelte.

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