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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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meinem vierten Lebensjahr Klavierunterricht bei Frau Tilkowski. Ich nehme an, das wird Ihnen nicht viel sagen, Mr. Ryder, aber Sie müssen wissen, daß Frau Tilkowski in unserer Stadt eine hochverehrte Persönlichkeit ist, jedenfalls ganz bestimmt nicht nur irgendeine Klavierlehrerin. Ihre Dienste sind nicht in der üblichen Weise für Geld zu haben, obwohl sie natürlich wie alle anderen auch ein Honorar nimmt. Ich will damit sagen, sie nimmt das, was sie tut, sehr ernst und akzeptiert als Schüler nur die Kinder der künstlerischen und intellektuellen Elite der Stadt. So hat etwa Paulo Rozario, der surrealistische Maler, eine Zeitlang hier gelebt, und Frau Tilkowski hat seine beiden Töchter unterrichtet. Und Professor Diegelmanns Kinder. Auch die Nichten der Gräfin. Sie wählt ihre Schüler sehr sorgsam aus, Sie sehen also, daß ich sehr viel Glück hatte, sie als Lehrerin zu bekommen, vor allem, weil Vater in jenen Tagen in der Gemeinde noch nicht das Ansehen genoß, das ihm heute zuteil wird. Aber ich nehme an, meine Eltern hatten sich schon damals der Kunst verschrieben. Ich erinnere mich, daß sie meine ganze Kindheit hindurch über bildende Künstler und Musiker gesprochen haben und darüber, wie wichtig es sei, sie zu unterstützen. Inzwischen bleibt Mutter meistens im Haus, aber damals ging sie noch viel mehr unter Menschen. Wenn etwa ein Musiker oder ein Orchester in die Stadt kam, legte sie stets Wert darauf, hinzugehen, um den Künstlern ihre Unterstützung zukommen zu lassen. Sie besuchte nicht nur die Vorstellung, sondern bemühte sich auch immer, hinterher in die Künstlergarderobe zu gehen, um den Künstlern persönlich ihr Lob auszusprechen. Selbst wenn mal jemand keine so gute Vorstellung gegeben hatte, ging sie anschließend in die Garderobe, um ihn aufzumuntern und einige dezente Ratschläge anzubringen. Sie lud die Musiker sogar oft zu uns nach Hause ein oder erbot sich, ihnen die Stadt zu zeigen. Meistens war der Terminplan der Künstler zu gedrängt, als daß sie ihre Einladungen und Angebote hätten annehmen können, aber wie Sie sicher selber bestätigen werden, sind solche Einladungen für jeden Künstler immer sehr erhebend. Was meinen Vater angeht, so war er immer sehr beschäftigt, aber ich erinnere mich, daß auch er sein Bestes gab. Wenn zu Ehren eines gastierenden Prominenten in unserer Stadt ein Empfang gegeben wurde, legte er natürlich immer großen Wert darauf, Mutter dorthin zu begleiten, ganz gleich wie beschäftigt er war, so daß er seinen Beitrag zur feierlichen Begrüßung des Besuchers leisten konnte. Sie sehen also, Mr. Ryder, daß meine Eltern, so weit ich zurückdenken kann, immer schon sehr kultivierte Menschen gewesen sind, die die Bedeutung der Kunst in unserer Gesellschaft zu schätzen wußten, und ich bin sicher, daß Frau Tilkowski bestimmt auch deshalb schließlich zugestimmt hat, mich als Schüler anzunehmen. Ich verstehe jetzt, daß es für meine Eltern damals ein wahrer Triumph gewesen sein muß, besonders für meine Mutter, die das Ganze arrangiert hatte. Nun nahm ich tatsächlich Stunden bei Frau Tilkowski, zusammen mit den Kindern von Mr. Rozario und Professor Diegelmann. Sie müssen unheimlich stolz gewesen sein. Und in den ersten Jahren machte ich mich auch wirklich sehr gut, ja tatsächlich, und zwar so gut, daß Frau Tilkowski mich einmal als einen der vielversprechendsten Schüler bezeichnete, den sie je gehabt hätte. Alles lief wunderbar, bis... ja, bis ich zehn Jahre alt war.«
    Der junge Mann schwieg plötzlich, vielleicht weil er bedauerte, so offen gesprochen zu haben. Doch ich sah auch, daß ein Teil seiner Person mit seinen Offenbarungen unbedingt fortfahren wollte, also fragte ich:
    »Was ist denn passiert, als Sie zehn waren?«
    »Also, ich schäme mich richtig, es zuzugeben, vor allem Ihnen gegenüber, Mr. Ryder. Aber als ich zehn war, na ja, da habe ich einfach mit dem Üben aufgehört. Ich bin zu Frau Tilkowski gegangen und hatte meine Stücke überhaupt nicht geübt. Und wenn sie mich dann fragte, wieso nicht, habe ich einfach nicht den Mund aufgemacht. Das ist entsetzlich peinlich, es kommt mir vor, als würde ich über einen ganz anderen sprechen, und ich wünschte mir jetzt, daß es durch irgendeinen Zaubertrick tatsächlich ein anderer gewesen wäre. Aber es stimmt, so ist es nun mal, das habe ich tatsächlich gemacht. Und nachdem es ein paar Wochen so gegangen ist, blieb Frau Tilkowski nichts anderes übrig, als meinen Eltern

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