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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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Richtung Tür gegangen war, hatte er den Kopf gehoben und leise gesagt: »Die Torte, Liebes. Die Torte. Es ist... es ist etwas ganz Besonderes.«
    »Sehr lieb von dir, aber ich habe wirklich schon so viel gegessen. Ich muß jetzt einfach ins Bett.«
    »Ja, sicher, sicher.« Der Hoteldirektor hatte voller Resignation wieder auf den Tisch hinuntergestarrt. Doch als dann Stephans Mutter gerade durch die Tür gehen wollte, hatte der Hoteldirektor sich plötzlich aufgerichtet und gesagt: »Schau sie dir doch wenigstens einmal an, Liebes. Nur einmal anschauen. Wie gesagt, es ist etwas ganz Besonderes.«
    Seine Mutter hatte gezögert und dann gesagt: »Also schön. Zeig sie mir schnell. Aber dann muß ich wirklich ins Bett. Vielleicht ist es ja der Wein, aber ich bin jetzt einfach furchtbar müde.«
    Als der Hoteldirektor das gehört hatte, war er aufgesprungen, und im nächsten Augenblick hatte er seine Frau aus dem Eßzimmer hinausgeführt.
    Der junge Mann hatte die Schritte seiner Eltern gehört, die in die Küche gegangen waren, dann, nach kaum mehr als einer Minute, waren sie über den Flur zurückgekommen und nach oben gegangen. Eine ganze Weile war Stephan noch am Tisch sitzen geblieben. Verschiedene leise Geräusche waren von oben gedrungen, aber er hatte keine Stimmen hören können. Schließlich hatte er gedacht, es wäre am besten, einfach die Nacht durch und zurück zu seiner Studentenbude zu fahren. Seine Gegenwart beim Frühstück würde dem Vater wohl kaum bei der langwierigen, immensen Aufgabe helfen, die gute Stimmung seiner Mutter wiederherzustellen.
    Er war aus dem Eßzimmer hinausgegangen und hatte unbemerkt aus dem Haus schlüpfen wollen, doch im Flur war er mit dem Vater zusammengetroffen, der die Treppe herunterkam. Der Hoteldirektor hatte den Finger an die Lippe geführt und gesagt:
    »Wir müssen leise sein. Deine Mutter hat sich gerade hingelegt.«
    Stephan hatte seinem Vater die Entscheidung mitgeteilt, nach Heidelberg zurückzufahren, woraufhin der Hoteldirektor gesagt hatte: »Wie schade. Deine Mutter und ich dachten, du könntest ein bißchen länger bleiben. Aber wie du sagst, du hast Seminare morgen. Ich werde es deiner Mutter erklären, sie wird es bestimmt verstehen.«
    »Und Mutter«, hatte Stephan gesagt. »Ich hoffe, es war ein schöner Abend für sie.«
    Sein Vater hatte dann zwar gelächelt, doch für einen kurzen Augenblick hatte Stephan einen Ausdruck tiefer Traurigkeit über sein Gesicht huschen sehen.
    »O ja. Ganz bestimmt. O ja. Sie war so froh, daß du dich von deinen Studien losreißen und den ganzen Weg hierher auf dich nehmen konntest. Ich weiß, sie hatte gehofft, du könntest ein paar Tage bleiben. Aber keine Sorge, ich werde es ihr schon erklären.«
    Als er in jener Nacht über die verlassenen Landstraßen gefahren war, hatte Stephan über alle Einzelheiten des Abends noch einmal nachgedacht – so wie er es in den folgenden Jahren wieder und immer wieder tun sollte. Die Qual, die er jedesmal bei dem Gedanken an den Vorfall empfunden hatte, war im Laufe der Zeit immer schwächer geworden, doch jetzt hatte das beharrliche Näherrücken des Donnerstagabends viele der alten Schrecken zurückgebracht und führte dazu, daß er, während wir durch die regnerische Nacht fuhren, erneut an den schmerzlichen Abend zurückversetzt wurde, der sich vor mehreren Jahren zugetragen hatte.
    Ich hatte Mitleid mit dem jungen Mann und brach das Schweigen, indem ich sagte:
    »Ich weiß, es geht mich nichts an, und ich hoffe, ich bin jetzt nicht unhöflich, aber ich glaube, Sie sind damals von Ihren Eltern, was Ihr Klavierspiel betrifft, sehr ungerecht behandelt worden. Ich würde Ihnen folgendes raten: Versuchen Sie doch einfach, soviel Spaß wie nur möglich an Ihrem Spiel zu haben und ungeachtet Ihrer Eltern Befriedigung und Sinn daraus zu ziehen.«
    Der junge Mann dachte eine Weile darüber nach. Dann sagte er:
    »Ich bin Ihnen sehr dankbar, Mr. Ryder, daß Sie sich Gedanken über meine Lage machen und so weiter. Aber eigentlich – naja, um ganz direkt zu sein, glaube ich nicht, daß Sie es wirklich verstehen können. Ich sehe ein, daß das Verhalten meiner Mutter an jenem Abend für einen Außenstehenden durchaus ein wenig, nun ja, ein wenig taktlos erscheinen mag. Aber damit würde man ihr Unrecht tun, und ich möchte keinesfalls, daß Sie mit solch einem Eindruck von hier fortgehen. Sehen Sie, Sie müssen verstehen, was alles dahintersteckt. Wissen Sie, zunächst einmal hatte ich seit

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