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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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abschalten wollen, würde ich eventuell vorschlagen, daß Sie sich einen Film ansehen. Viele Hotelgäste sind genau in diesem Augenblick im Kino und sehen sich einen Film an.«
    Diese letzte Bemerkung – das Gerede über den Film – riß mich aus meiner Schläfrigkeit. Ich richtete mich auf und fragte:
    »Entschuldigung, aber was haben Sie da gerade gesagt? Viele Hotelgäste sind sich einen Film ansehen gegangen?«
    »Ja, da ist ein Kino gleich um die Ecke. Die haben dort eine Spätvorstellung. Viele Gäste finden, daß sie sich nach einem harten Tag besser entspannen können, wenn sie sich einen Film ansehen. Das könnten Sie ja auch tun, statt einen Cocktail oder etwas Heißes zu trinken.«
    Das Telefon neben der Hand des Angestellten klingelte, und er entschuldigte sich und hob den Hörer ab. Während er zuhörte, merkte ich, daß er mich von Zeit zu Zeit verlegen ansah. Dann sagte er: »Er steht gerade hier», und dann reichte er mir den Hörer.«
    »Hallo«, sagte ich.
    Einen kurzen Moment herrschte Stille. Dann sagte eine Stimme: »Ich bin es.«
    Ich brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, daß es Sophie war. Aber kaum war ich mir dessen bewußt, da erfaßte mich heftige Wut auf sie, und nur die Gegenwart von Boris hielt mich davon ab, rasend vor Ärger ins Telefon zu brüllen. Schließlich sagte ich sehr kühl: »Ach so. Du bist es.«
    Es entstand eine weitere kurze Pause, bevor sie sagte: »Ich bin draußen in einer Telefonzelle. Auf der Straße. Ich habe dich und Boris hineingehen sehen. Es ist vielleicht besser, wenn er mich im Augenblick nicht sieht. Es ist längst höchste Zeit für ihn zum Schlafengehen. Laß dir doch bitte nicht anmerken, daß du mit mir sprichst.«
    Ich schaute zu Boris hinunter, der an mich gelehnt im Stehen eingenickt war.
    »Also, was bildest du dir eigentlich ein?« fragte ich.
    Ich hörte sie tief seufzen. Dann antwortete sie:
    »Du hast alles Recht der Welt, wütend zu sein. Ich... ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Ich sehe ja ein, daß das blöd von mir war...«
    »Hör mal«, unterbrach ich sie voller Sorge, daß ich meinen Ärger nicht mehr viel länger unter Kontrolle würde halten können, »wo genau bist du?«
    »Auf der anderen Straßenseite. Unter dem Bogengang, vor den Antiquitätenläden.«
    »Ich bin sofort draußen. Bleib, wo du bist.«
    Ich gab dem Angestellten den Hörer zurück und war erleichtert, daß Boris während des Gesprächs nicht aufgewacht war. In dem Moment ging allerdings die Aufzugtür auf, und Gustav trat in die Halle.
    Seine Uniform saß tatsächlich tadellos. Sein dünnes weißes Haar war angefeuchtet und gekämmt. Leichte Schwellungen unter den Augen und eine gewisse Steifheit in seinem Gang waren die einzigen Anzeichen dafür, daß er noch vor wenigen Minuten tief und fest geschlafen hatte.
    »Ach, guten Abend«, sagte er, während er näher kam.
    »Guten Abend.«
    »Sie haben Boris mitgebracht. Wie freundlich von Ihnen, daß Sie sich solche Mühe gemacht haben.« Gustav ging noch einige Schritte weiter auf uns zu und schaute mit einem sanften Lächeln auf seinen Enkel. »Du meine Güte, schauen Sie ihn sich nur an. Der schläft ja tief und fest.«
    »Ja, er ist sehr müde gewesen«, sagte ich.
    »Er sieht noch so jung aus, wenn er so schläft.« Noch einen Augenblick lang schaute er Boris voller Zärtlichkeit an. Dann sah er auf zu mir und sagte: »Darf ich Sie fragen, ob es Ihnen gelungen ist, mit Sophie zu reden? Den ganzen Nachmittag habe ich daran gedacht, wie Sie es wohl anstellen werden.«
    »Also, ja, ich habe mit ihr gesprochen.«
    »Aha. Und haben Sie jetzt eine Ahnung gekriegt?«
    »Eine Ahnung?«
    »Eine Ahnung von dem, was sie so beschäftigt.«
    »Ach so. Tja, obwohl sie einige recht aufschlußreiche Dinge gesagt hat... also, um ehrlich zu sein... wie ich ja schon gesagt habe, es ist für einen Außenstehenden wie mich recht schwierig, da durchzublicken. Natürlich habe ich die eine oder andere vage Vorstellung von dem, was sie belastet, aber ich meine jetzt mehr denn je, daß Sie am besten selbst mit ihr sprechen sollten.«
    »Aber Sie wissen doch, ich habe es Ihnen doch schon gesagt...«
    »Ja, ja, Sie und Sophie, Sie sprechen nicht direkt miteinander, ich weiß schon«, sagte ich unter einem plötzlichen Aufflackern von Ungeduld. »Und doch, wenn das Ganze so wichtig für Sie ist, denke ich...«
    »Das Ganze ist mir ungeheuer wichtig. O ja, wirklich ungeheuer wichtig. Und zwar wegen Boris, verstehen Sie. Wenn wir

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