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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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gesehen, wie sie Ulrich in der Hand hielt und vielleicht hoffte, er könne noch gerettet werden... Ach, es ist mir wirklich nicht leichtgefallen. Aber das Konzert hinter mir lief immer noch, und ich bin im Schlafzimmer geblieben. Viel später habe ich gehört, wie meine Frau nach Hause gekommen ist, wie die beiden miteinander geredet haben und Sophie wieder geweint hat. Und dann ist meine Frau ins Schlafzimmer gekommen und hat mir erzählt, was passiert ist. ›Hast du denn nichts gehört‹, hat sie mich gefragt, und ich habe geantwortet: ›Liebe Güte, nein, ich habe mir das Konzert angehört.‹ Am anderen Morgen beim Frühstück hat Sophie nichts zu mir gesagt und ich nichts zu ihr. Mit anderen Worten, wir haben einfach weitergemacht im Sinne unserer Übereinkunft. Aber ich habe gemerkt, und es konnte gar keinen Zweifel daran geben, ich habe gemerkt, daß Sophie wußte , ich hatte sie gehört. Und sie hat es mir nicht einmal übelgenommen. Sie hat mir das Milchkännchen gereicht, genau wie immer, die Butter, sie hat sogar meinen Teller abgeräumt – als kleinen Extradienst. Ich will damit sagen, daß Sophie unsere Übereinkunft verstanden hat und sie auch respektierte. Danach haben sich die Dinge dann, wie Sie sich ja denken können, so eingespielt. Verstehen Sie? Da wir unsere Übereinkunft wegen der Sache mit Ulrich nicht aufgegeben haben, wäre es einfach nicht richtig gewesen, sie aufzugeben, ehe nicht etwas mindestens genauso Bedeutungsvolles passiert wäre. Die ganze Sache eines Tages ohne einen besonderen Grund beizulegen, wäre tatsächlich nicht nur irgendwie merkwürdig gewesen, sondern es hätte sogar die Tragik verharmlost, die für meine Tochter mit der ganzen UIrich-Episode verbunden war. Sie verstehen das doch hoffentlich. Jedenfalls, nachdem sich nun unsere Übereinkunft, na ja, gewissermaßen verfestigt hat, scheint es mir, sogar unter den gegebenen Umständen, einfach nicht angebracht, daß ich so plötzlich mit einem so langandauernden Abkommen breche. Und ich kann wohl sagen, daß es Sophie sicher ganz ähnlich ergeht. Und deshalb habe ich Sie ja auch gebeten, mir diesen besonderen Gefallen zu tun, zumal Sie ja heute nachmittag ohnehin in die Richtung gingen...«
    »Ja, ja, ja«, unterbrach ich und verspürte eine weitere Welle der Ungeduld. Dann sagte ich ein wenig versöhnlicher: »Ich verstehe ja, wie die Dinge zwischen Ihnen und Ihrer Tochter jetzt liegen. Aber ich frage mich gerade, könnte nicht vielleicht genau diese Sache – diese Sache mit Ihrer Übereinkunft… Könnte nicht vielleicht gerade diese Sache der tiefere Grund für die Probleme Ihrer Tochter sein? Daß es Ihre Übereinkunft war, über die sie damals in dem Café nachgedacht hat, als Sie sie so verzweifelt haben dasitzen sehen?«
    Gustav schien verblüfft, und eine ganze Weile sagte er nichts mehr. Schließlich erwiderte er: »Was Sie da sagen, das ist mir noch gar nicht in den Sinn gekommen. Darüber muß ich erst mal nachdenken. Also ehrlich, das ist mir noch gar nicht in den Sinn gekommen.« Wieder schwieg er einen Augenblick, auf seinem Gesicht lag jetzt ein besorgter Ausdruck. Dann schaute er auf und sagte: »Aber warum sollte ihr unsere Übereinkunft gerade jetzt solche Probleme machen? Nach all der Zeit?« Langsam schüttelte er den Kopf. »Darf ich Sie noch etwas fragen? Sind Sie nach dem Gespräch mit ihr zu diesem Schluß gekommen?«
    Plötzlich war ich sehr müde und wünschte, die ganze Sache würde mir aus der Hand genommen. »Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht«, entgegnete ich. »Wie ich schon mehrfach gesagt habe, diese Familienangelegenheiten... Ich bin nur ein Außenstehender. Wie kann ich das beurteilen? Ich habe ja nur gesagt, es könnte vielleicht möglich sein.«
    »Darüber muß ich natürlich erst einmal nachdenken. Schon wegen Boris will ich gern alle Möglichkeiten in Erwägung ziehen. Ja, ich werde darüber nachdenken müssen.« Dann schwieg er wieder, sein Gesichtsausdruck jetzt noch besorgter. »Ich überlege gerade«, sagte er schließlich, »ob ich Sie um noch einen Gefallen bitten dürfte. Wenn Sie Sophie das nächste Mal sehen, vielleicht macht es Ihnen dann nichts aus, dieser besonderen Möglichkeit nachzugehen. Ich weiß, daß Sie dabei sehr taktvoll vorgehen würden. Normalerweise würde ich Sie um so etwas nicht bitten, aber wissen Sie, ich denke an den kleinen Boris hier. Ich wäre Ihnen so dankbar.«
    Er warf mir einen flehentlichen Blick zu. Schließlich seufzte ich und sagte:

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