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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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Jahre auswirken würden. Ich glaube, sie haben gedacht, wenn ich erst einmal wieder bei Frau Tilkowski anfange, werden diese Jahre keinen großen Unterschied machen, solange ich nur hart arbeite. Ich weiß, Frau Tilkowski hat mehr als einmal versucht, es ihnen zu erklären, aber ich glaube, sie waren so voller Stolz und so voller Liebe für mich, daß sie die Realität einfach nicht akzeptiert haben. Noch ein paar Jahre lang waren sie davon überzeugt, daß ich prächtige Fortschritte machte, daß ich wirklich Talent hätte. Erst als ich siebzehn war, wurde ihnen alles auf einmal klar. Damals gab es bei uns einen Klavierwettbewerb, und der Jürgen-Flemming-Preis wurde verliehen; der Städtische Kulturverein organisierte das Ganze für die vielversprechenden jungen Talente der Stadt. Der Wettbewerb hatte durchaus einen guten Ruf, doch wegen fehlender finanzieller Mittel wird er heute nicht mehr ausgeschrieben. Als ich siebzehn war, hatten meine Eltern es sich in den Kopf gesetzt, daß ich daran teilnehmen sollte, und meine Mutter hatte sogar schon angefangen, alle Vorkehrungen zu treffen, damit ich mich als Teilnehmer für den Wettbewerb anmelden konnte. Und da haben sie dann erstmals gemerkt, wie wenig ich den Anforderungen entsprach. Sie haben sehr genau zugehört, wenn ich spielte – zum erstenmal haben sie vielleicht wirklich zugehört -, und ihnen wurde klar, daß ich mich und die Familie nur blamieren würde, wenn ich an dem Wettbewerb teilnahm. Ich wollte es trotzdem unbedingt versuchen, aber meine Eltern kamen zu dem Schluß, daß eine Teilnahme mein Selbstvertrauen allzusehr untergraben würde. Wie gesagt, es war das erste Mal, daß sie merkten, wie dürftig mein Spiel war. Bis dahin hatten ihre hohen Erwartungen und wahrscheinlich auch ihre Liebe zu mir sie einfach davor bewahrt, mir wirklich ganz objektiv zuzuhören. Zum erstenmal akzeptierten sie jetzt die Tatsache, daß die zwei fehlenden Jahre eine wirklich verheerende Wirkung gehabt hatten. Na ja, danach waren meine Eltern dann verständlicherweise sehr enttäuscht. Besonders Mutter schien sich jetzt mit dem Gedanken abzufinden, daß alles umsonst gewesen war, die ganze Mühe, die sie sich gegeben hatte, all die Jahre bei Frau Tilkowski, dieses eine Mal, als sie zu ihr gegangen war, um sie zu bitten, mich wieder aufzunehmen, alles umsonst, sie schien alles als eine einzige große Vergeudung anzusehen. Und sie war dann oft sehr niedergeschlagen und ging kaum noch aus, ging nicht mehr zu Konzerten oder festlichen Veranstaltungen. Vater dagegen hat die Hoffnung, was mich betrifft, nie ganz aufgegeben. Das ist wirklich typisch für ihn. Immer ist er voller Hoffnung, bis ganz zum Ende. Ab und zu, so ungefähr einmal im Jahr, bittet er mich, ihm vorzuspielen, und wenn er mich dann hört, sehe ich förmlich seine Hoffnung, ich sehe, wie er denkt: ›Diesmal, dieses eine Mal wird es anders sein.‹ Aber wenn ich mit Spielen fertig bin und zu ihm hinschaue, sehe ich immer nur, daß er wieder einmal ganz niedergeschmettert ist. Natürlich tut er sein Möglichstes, um das vor mir zu verbergen, aber es ist dennoch deutlich zu sehen. Trotzdem hat er die Hoffnung nie aufgegeben, und das hat mir immer viel bedeutet.«
    Mit hoher Geschwindigkeit fuhren wir jetzt eine Hauptstraße entlang, die von hoch aufragenden Bürogebäuden gesäumt wurde. Zwar kamen wir an langen Reihen ordentlich geparkter Wagen vorbei, aber unser Auto war meilenweit das einzige, das fuhr.
    »Also war es die Idee Ihres Vaters«, fragte ich, »daß Sie am Donnerstag abend auftreten sollen?«
    »Ja. Da sehen Sie, was er für ein Vertrauen in mich hat! Den Vorschlag hat er zum erstenmal vor sechs Monaten gemacht. Seit beinahe zwei Jahren schon hat er mich nicht mehr spielen hören, und doch hat er solches Vertrauen in mich. Natürlich hat er mir alle nur erdenkliche Gelegenheit gegeben, nein zu sagen, doch ich war so gerührt, daß er nach all den Enttäuschungen immer noch solches Vertrauen in mich hatte. Also habe ich ja gesagt, ich habe gesagt, ich tue es.«
    »Das war sehr mutig von Ihnen. Ich hoffe, es stellt sich heraus, daß es die richtige Entscheidung war.«
    »Also eigentlich, Mr. Ryder, habe ich zugesagt, weil ich, nun ja, weil ich zu dem Schluß gekommen bin, daß ich kürzlich eine Art Durchbruch erzielt habe. Vielleicht wissen Sie ja, wovon ich spreche, es ist nicht ganz einfach, es zu erklären. Es ist, als ob etwas in meinem Kopf, etwas, das meinen Fortschritt immer blockiert hat,

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