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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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eine Art Damm oder so etwas, plötzlich gebrochen ist und sich jetzt ein ganz neuer Elan ausbreiten kann. Ich kann es nicht so recht erklären, aber Tatsache ist, daß ich davon überzeugt bin, jetzt ein besserer Pianist zu sein als zu dem Zeitpunkt, als Vater mich das letzte Mal gehört hat. Sie verstehen also, als er mich fragte, ob ich Donnerstag abend auftreten wollte, habe ich, so nervös ich auch war, zugesagt. Hätte ich es nicht getan, wäre es ihm gegenüber ungerecht gewesen, bei all dem Vertrauen, das er in mich gesetzt hat. Ich will damit nicht sagen, daß ich mir wegen Donnerstag abend keine Sorgen mache. Ich habe sehr hart an meinem Stück gearbeitet, und ich gebe zu, ich bin tatsächlich ein wenig in Sorge. Aber ich weiß, die Chancen stehen gut, daß ich meine Eltern wirklich überraschen kann. Sie müssen wissen, ich habe immer diesen einen Traum gehabt. Auch als mein Klavierspiel auf seinem absoluten Tiefpunkt war. Ich hatte diesen Traum, daß ich mehrere Monate irgendwo eingesperrt zubringe und übe und nochmals übe. Meine Eltern würden mich monatelang nicht zu Gesicht bekommen. Dann, eines Tages, würde ich plötzlich nach Hause kommen. Vielleicht an einem Sonntagnachmittag. Auf jeden Fall zu einer Zeit, wenn auch Vater zu Hause ist. Ich würde hereinkommen, kaum ein Wort sagen, einfach zum Klavier gehen, den Deckel aufklappen und zu spielen anfangen. Ich würde nicht einmal meinen Mantel ausziehen. Ich würde einfach nur spielen und immer weiter spielen. Bach, Chopin, Beethoven. Dann die zeitgenössischen Sachen. Grebel. Kazan. Mullery. Ich würde einfach nur spielen und immer weiter spielen. Und meine Eltern wären mir ins Eßzimmer gefolgt, und sie würden einfach völlig verblüfft zusehen. Es wäre jenseits ihrer kühnsten Träume. Aber dann würden sie zu ihrem großen Erstaunen bemerken, daß ich mich, noch während ich immer weiter spiele, zu größeren und immer größeren Höhen aufschwinge. Erhabene Adagios voller Empfindsamkeit. Verblüffende Bravourstücke voller Leidenschaft. Höher und höher würde ich mich hinaufschwingen. Und sie würden dastehen, mitten im Raum, Vater immer noch in der Hand die Zeitung haltend, die er gerade gelesen hatte, beide Eltern völlig verblüfft. Schließlich würde ich mit einem atemberaubenden Finale enden, dann würde ich mich endlich zu ihnen umdrehen und... na ja, ich weiß nie genau, was dann passiert. Aber diesen Traum habe ich gehabt, seit ich dreizehn oder vierzehn Jahre alt bin. Donnerstag abend wird es vielleicht nicht ganz so, wie ich es mir in meinen Träumen vorstelle, aber möglicherweise kommt es dem recht nahe. Wie gesagt, irgend etwas ist anders geworden, und ich bin sicher, ich bin jetzt fast soweit. So, Mr. Ryder, da wären wir. Und Sie kommen noch rechtzeitig zu Ihren Reportern.«
    Das Stadtzentrum war so still gewesen, ohne jeden Straßenverkehr, daß ich die Gegend gar nicht wiedererkannt hatte. Aber tatsächlich näherten wir uns jetzt dem Eingang des Hotels.
    »Wenn Sie nichts dagegen haben, lasse ich Sie und Boris hier aussteigen. Ich muß den Wagen nach hinten bringen«, fuhr Stephan fort.
    Im Fond des Wagens sah Boris sehr müde aus, war aber immer noch wach. Wir stiegen aus, und ich achtete darauf, daß der Junge sich auch bei Stephan bedankte, bevor ich ihn zum Hotel führte.

SIEBEN
    Das Licht in der Hotelhalle war gedämpft, und das ganze Haus wirkte vollkommen still. Der junge Angestellte, den ich bei meiner Ankunft kennengelernt hatte, war wieder im Dienst, obwohl er auf seinem Stuhl hinter der Rezeption fest zu schlafen schien. Als wir auf ihn zugingen, sah er auf, und als er mich erkannt hatte, gab er sich große Mühe, wieder wach zu werden.
    »Guten Abend«, sagte er recht munter, doch im nächsten Augenblick schien ihn wieder seine Müdigkeit zu überkommen.
    »Guten Abend. Ich brauche noch ein Zimmer. Für Boris.« Ich legte meine Hand auf die Schulter des Jungen. »So nahe wie möglich bei meinem, bitte.«
    »Wollen mal sehen, was ich da tun kann, Mr. Ryder.«
    »Also, zufällig ist Gustav, der Hoteldiener hier, der Großvater von Boris. Ist es vielleicht möglich, daß er sich noch im Hotel aufhält?«
    »O ja, Gustav wohnt hier. Er hat ein kleines Zimmer im Dachgeschoß. Aber im Moment wird er wohl gerade schlafen.«
    »Vielleicht hätte er nichts dagegen, wenn wir ihn wecken. Ich bin sicher, er wird Boris gleich sehen wollen.«
    Der Angestellte sah besorgt auf die Uhr. »Also gut, was immer Sie sagen«,

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