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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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wie vorher. Aber dann kam und ging ihr Geburtstag, genauso Weihnachten, es kam und ging, und irgendwie haben wir nie den Anfang gefunden. Und als sie dann elf war, ist ein ganz bestimmtes trauriges Ereignis eingetreten. Sophie hatte damals diesen kleinen weißen Hamster. Sie hatte ihn Ulrich genannt, und sie hatte ihn sehr liebgewonnen. Stunden über Stunden brachte sie damit zu, sich mit ihm zu unterhalten und ihn durch die Wohnung zu tragen. Dann, eines Tages, verschwand das Tier. Sophie hat überall nach ihm gesucht. Auch ihre Mutter und ich haben die Wohnung durchsucht und haben die Nachbarn nach ihm gefragt, aber es hatte alles keinen Zweck. Meine Frau tat ihr Möglichstes, um Sophie zu versichern, daß es Ulrich gutging – daß er einfach nur eine kleine Reise machte und bald wieder zurück wäre. Eines Abends dann war meine Frau ausgegangen, und Sophie und ich waren allein in der Wohnung. Ich war im Schlafzimmer und hatte das Radio recht laut aufgedreht – es wurde ein Konzert übertragen -, als ich plötzlich hörte, daß Sophie im Wohnzimmer hemmungslos schluchzte. Fast sofort habe ich mir gedacht, daß sie Ulrich endlich gefunden hatte. Beziehungsweise das, was von ihm noch übrig war – zu dem Zeitpunkt war er schon seit ein paar Wochen verschwunden. Nun ja, die Tür zwischen Schlafzimmer und Wohnzimmer war geschlossen, und, wie gesagt, das Radio war laut aufgedreht, also wäre es durchaus denkbar gewesen, daß ich sie gar nicht gehört hätte. Deshalb blieb ich im Schlafzimmer, mit dem Ohr an der Tür, hinter mir lief das Konzert. Natürlich habe ich mehrmals gedacht, ich sollte zu ihr hingehen, aber je länger ich da an der Tür stand, desto merkwürdiger erschien es mir, einfach ins Zimmer zu stürzen. Wissen Sie, so laut hat sie ja gar nicht geweint. Einen Moment lang habe ich mich sogar wieder hingesetzt und habe versucht, mir einzureden, ich hätte sie gar nicht gehört. Aber natürlich hat es mir fast das Herz zerrissen, sie so schluchzen zu hören, und bald stand ich wieder bei der Tür, beugte mich vor und versuchte, Sophie vor dem Hintergrund der Konzertmusik zu hören. Wenn sie mich ruft, sagte ich mir, wenn sie an die Tür klopft oder mich ruft, dann gehe ich zu ihr hin. So hatte ich es entschieden. Wenn sie ruft: ›Papa!‹, dann gehe ich zu ihr, ich werde sagen, daß ich sie wegen der Musik nicht früher gehört habe. Ich habe gewartet, aber sie hat mich weder gerufen noch hat sie an die Tür geklopft. Das einzige, was sie gemacht hat, war folgendes: Nachdem sie eine Weile wie von Sinnen gewesen ist und schrecklich geschluchzt hat – es ging richtig zu Herzen, das können Sie mir glauben -, da hat sie zu sich selbst gesprochen – ich möchte es noch einmal ganz deutlich sagen -, sie hat zu sich selbst gesprochen und gerufen: ›Ich habe Ulrich in dem Karton gelassen! Es war meine Schuld! Ich habe es vergessen! Es war meine Schuld!‹ Es war so gewesen, und das habe ich dann später herausgefunden, daß Sophie Ulrich in diesen kleinen Geschenkkarton gesetzt hatte. Sie wollte ihn irgendwohin mitnehmen, sie hat ihn oft mitgenommen, um ihm etwas zu zeigen. Sie hatte ihn in diesen kleinen Karton gesetzt, fertig zum Ausgehen, aber dann ist etwas dazwischengekommen, sie wurde abgelenkt und ist dann gar nicht ausgegangen, und in der Zwischenzeit hatte sie dann vergessen, daß sie Ulrich in den Karton gesetzt hatte. An dem Abend, von dem ich Ihnen erzähle, das war dann Wochen später, hat sie sich irgendwie in der Wohnung zu schaffen gemacht, und da ist es ihr plötzlich eingefallen. Können Sie sich vorstellen, was das für ein entsetzlicher Moment für mein kleines Mädchen gewesen sein muß? Sich plötzlich daran zu erinnern, vielleicht verzweifelt zu hoffen, sie könne sich geirrt haben, und dann zu dem Karton zu laufen. Und natürlich war Ulrich dann da, immer noch in dem Karton. Weil ich nur durch die geschlossene Tür zuhörte, konnte ich zu dem Zeitpunkt natürlich nicht ganz genau mitbekommen, was alles geschehen war, aber ich habe es mir natürlich gedacht, als sie gerufen hat: ›Ich habe Ulrich in dem Karton gelassen! Es war meine Schuld.‹ Aber Sie müssen verstehen, daß sie das zu sich selbst gesagt hat. Wenn sie gesagt hätte: ›Papa! Bitte komm her…‹ Aber nein. Aber trotzdem habe ich mir gedacht: ›Wenn sie noch einmal etwas sagt, dann gehe ich hinein.‹ Aber sie hat nichts mehr gesagt. Sie hat einfach nur immer weiter geschluchzt. Ich habe sie im Geiste vor mir

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