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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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Ryder, wenn Sie Ihre alten Fehler wieder und immer wieder machten. Und wenn ich dann denken muß, daß ich die ganze Zeit hier war, Ihnen einfach zugesehen und nichts getan habe. Ich bin wirklich überzeugt davon, daß ich Ihnen in Ihrer gegenwärtigen Misere helfen könnte. Natürlich – als ich noch mit Leo zusammen war« – sie deutete mit der Hand vage auf Brodsky -, »war ich noch zu jung, ich wußte einfach noch nicht genug, ich begriff nicht, was da vor sich ging. Aber inzwischen habe ich viele Jahre lang Zeit gehabt, über alles nachzudenken. Und als ich hörte, daß Sie in unsere Stadt kommen, sagte ich mir, daß es jetzt wirklich an der Zeit sei, meine Verbitterung zu zügeln. Ich bin alt geworden, aber ich bin längst noch nicht erledigt. Es gibt gewisse Dinge im Leben, die ich inzwischen gut, wirklich sehr gut, verstehe, und es ist noch nicht zu spät; ich sollte versuchen, all das nutzbringend einzusetzen. In diesem Sinne möchte ich Sie einladen, mich einmal besuchen zu kommen, Mr. Ryder. Ich möchte mich noch einmal dafür entschuldigen, daß ich vorhin, als wir uns kennenlernten, ein wenig kurz angebunden war. Es wird nicht wieder vorkommen, das verspreche ich Ihnen. Bitte sagen Sie, daß Sie kommen werden.«
    Während sie sprach, glitt vor meinem inneren Auge das Bild ihres Salons vorüber – das gedämpfte, behagliche Licht, die ausgefransten Samtvorhänge, die abgewetzten Möbel -, und einen kurzen Moment lang schien der Gedanke, mich auf einem ihrer Sofas zurückzulehnen, weitab von den Zwängen des Lebens, etwas merkwürdig Verlockendes zu haben. Ich holte tief Luft und seufzte.
    »Ich werde Ihre freundliche Einladung in Erwägung ziehen, Miss Collins«, sagte ich. »Aber jetzt muß ich zu Bett gehen und etwas zur Ruhe kommen. Sie müssen bedenken, daß ich monatelang herumgereist bin und seit meiner Ankunft hier kaum einen Moment habe verschnaufen können. Ich bin außerordentlich erschöpft.«
    Während ich das sagte, überkam mich wieder meine ganze Müdigkeit. Die Haut unter den Augen juckte, und mit der Handfläche rieb ich mir das Gesicht. Ich rieb mir immer noch im Gesicht herum, als ich eine Berührung am Ellenbogen spürte und eine Stimme sanft sagte:
    »Ich gehe mit Ihnen zurück, Mr. Ryder.«
    Stephan streckte die Hand hoch, um mir von dem Stuhl herunterzuhelfen. Ich stützte mich auf seine Schulter und kletterte hinunter.
    »Ich bin jetzt auch sehr müde«, sagte Stephan. »Ich gehe mit Ihnen zurück.«
    »Wir wollen zurück gehen?«
    »Ja, ich werde in einem der Zimmer hier übernachten. Das mache ich oft, wenn ich früh am nächsten Morgen Dienst habe.«
    Einen Augenblick lang verwirrten mich seine Worte nur. Als ich dann an den in Gruppen zusammenstehenden und zusammensitzenden Gästen, an den Kellnern und den Tischen vorbeischaute, dorthin, wo der riesige Raum sich in der Dunkelheit verlor, dämmerte mir auf einmal, daß wir uns im Atrium des Hotels befanden. Ich hatte den Raum nicht wiedererkannt, weil ich ihn Stunden zuvor vom entgegengesetzten Ende her betreten – und betrachtet – hatte. Irgendwo in der Dunkelheit am anderen Ende des Raumes mußte die Bar sein, an der ich meinen Kaffee getrunken und den weiteren Verlauf des Tages geplant hatte.
    Ich hatte jedoch keine Gelegenheit, länger bei dieser Erkenntnis zu verweilen, denn mit überraschender Beharrlichkeit führte mich Stephan fort.
    »Wir wollen jetzt zurückgehen, Mr. Ryder. Übrigens, da ist noch etwas, über das ich gern mit Ihnen sprechen würde.«
    »Gute Nacht, Mr. Ryder«, rief mir Miss Collins zu, als wir vorbeigingen.
    Ich schaute zu ihr zurück, um ihr gute Nacht zu wünschen, und hätte das auch weniger flüchtig getan, hätte mich Stephan nicht immer weiter weggeführt. Auch hörte ich, während wir uns unseren Weg durch den Saal bahnten, daß mir von allen Seiten Leute gute Nacht wünschten, und obwohl ich lächelte und winkte, so gut ich konnte, war ich mir doch bewußt, daß mein Abgang längst nicht so elegant war, wie es möglich gewesen wäre. Doch offensichtlich gab es etwas, das Stephan auf der Seele lag, denn sogar während ich mich über die Schulter zurück von den Leuten verabschiedete, zog er mich am Arm und sagte:
    »Ich habe nachgedacht, Mr. Ryder. Vielleicht will ich jetzt zu hoch hinaus, aber ich finde, ich sollte den Kazan versuchen. Ich weiß ja, daß Sie mir vorhin geraten haben, einfach bei dem zu bleiben, was ich vorbereitet habe. Aber ich habe wirklich nachgedacht und meine, ich

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