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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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Natürlich fühlen wir alle mit Mr. Brodsky. Aber seien wir doch ehrlich, dieser Hund ist eine Gefahr gewesen – für andere Hunde, aber auch für Menschen. Und wenn Mr. Brodsky dem Tier wenigstens von Zeit zu Zeit das Fell gebürstet hätte und mit ihm wegen der Hautentzündung, die er offensichtlich schon seit Jahren hatte, zum Arzt gegangen wäre...«
    Der Mann wurde von einem Sturm ärgerlichen Protestes zum Schweigen gebracht. Überall erhoben sich Rufe wie »Das ist ja schimpflich!« und »Was für eine Schande!«, und mehrere Gäste verließen ihre Tische, um dem Missetäter eine Standpauke zu halten. Hoffman gab mir wieder Zeichen und wischte ärgerlich die Luft, mit einem entsetzlichen Grinsen im Gesicht. Ich hörte die Stimme des Bärtigen über dem Durcheinander dröhnen: »Stimmt doch. Der Hund ist ein gräßliches Vieh gewesen!«
    Ich vergewisserte mich, daß mein Bademantel fest zugebunden war, und wollte gerade wieder aufstehen, als ich sah, daß Brodsky sich plötzlich rührte und aufstand.
    Der Tisch machte ein Geräusch, als er aufstand, und alle Köpfe wandten sich ihm zu. Im Nu waren diejenigen, die ihre Plätze verlassen hatten, zu ihren Tischen zurückgekehrt, und es herrschte wieder Stille im Raum.
    Einen Augenblick lang dachte ich, Brodsky würde über den Tisch fallen. Doch er bewahrte sein Gleichgewicht, und für einen Moment musterte er den Raum. Er sprach mit leicht heiserer Stimme.
    »Also, was soll das hier eigentlich alles?« fragte er. »Glauben Sie wirklich, dieser Hund hat mir so viel bedeutet? Er ist tot, und damit hat es sich. Ich brauche eine Frau. Manchmal ist es ganz schön einsam. Ich brauche eine Frau.« Er hielt inne, und für eine Weile schien er ganz in Gedanken verloren zu sein. Dann sagte er verträumt: »Unsere Matrosen. Unsere betrunkenen Matrosen. Was wohl aus denen geworden ist? Sie war ja noch so jung damals. Jung und wunderschön.« Er überließ sich wieder seinen Gedanken, schaute zu den Lichtern hoch, die von der hohen Decke strahlten, und wieder dachte ich, er würde vorwärts auf den Tisch fallen. Hoffman muß etwas Ähnliches befürchtet haben, denn er stand auf, und indem er die Hand sacht hinter Brodskys Rücken führte, flüsterte er ihm etwas ins Ohr. Brodsky antwortete nicht gleich. Dann murmelte er: »Sie hat mich einmal geliebt. Mehr geliebt als sonst jemanden. Unsere betrunkenen Matrosen. Wo mögen sie jetzt wohl sein?«
    Hoffman lachte herzhaft, so als hätte Brodsky einen Witz gemacht. Mit breitem Lächeln schaute er in den Raum, dann flüsterte er Brodsky wieder etwas ins Ohr. Schließlich schien sich Brodsky daran zu erinnern, wo er war, und indem er sich geistesabwesend zum Hoteldirektor umdrehte, ließ er sich überreden, sich zu setzen.
    Es folgte ein Moment der Stille, in der niemand sich regte. Dann erhob sich die Gräfin mit munterem Lächeln.
    »Meine Damen und Herren, wir haben jetzt eine wundervolle Überraschung für Sie! Er ist erst heute nachmittag eingetroffen, und er muß wirklich sehr müde sein, aber dennoch hat er sich bereit erklärt, unser Überraschungsgast zu sein. Ja, tatsächlich! Mr. Ryder ist heute abend bei uns!«
    Die Gräfin machte eine schwungvolle Geste in meine Richtung, und aufgeregte Rufe ertönten im ganzen Raum. Bevor ich auch nur irgend etwas tun konnte, hatten sich die Leute an meinem Tisch schnell auf mich gestürzt und wollten mir die Hand schütteln. Im nächsten Moment wurde mir klar, daß überall um mich her Menschen waren, die vor Entzücken ganz hingerissen waren, mich begrüßten und mir die Hände entgegenstreckten. Auf diese Annäherungsversuche reagierte ich, so höflich ich konnte, aber als ich über die Schulter zurückschaute – ich hatte noch nicht die Gelegenheit gehabt aufzustehen -, sah ich, daß sich hinter mir eine Menschenmenge versammelt hatte, es gab ein großes Gedränge, und viele standen auf Zehenspitzen. Ich begriff, daß ich die Situation unter Kontrolle bringen mußte, bevor sie ins Chaos abglitt. Da so viele bereits standen, entschied ich, es sei das Beste, sie zu überragen, mich auf eine Art Podest zu stellen. Ich überzeugte mich schnell davon, daß mein Bademantel fest zugebunden war, und kletterte auf meinen Stuhl.
    Sofort legte sich das Geschrei, die Leute verharrten reglos, wo sie gerade standen, um zu mir hochzuschauen. Von meinem neuen Aussichtspunkt aus sah ich, daß über die Hälfte der Gäste ihre Tische verlassen hatte, und ich entschloß mich, sofort zu

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