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Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman

Titel: Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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den Lattenzaun von Gaustad.
    Eine Weile blieben wir jeder auf einer Seite stehen und schauten einander an.
    Sie wussten nicht so recht, was sie jetzt machen sollten.
    War das alles gewesen?
    Dann liefen sie den Weg hinunter, während sie im Chor sangen, und bald konnte ich sie nicht mehr hören. Und dieses Lied existiert seitdem im Volksmund, und so wie mein Vater der Begründer des Ausdrucks »hohl wie eine Kokosnuss« war, so wurde ich Schöpfer der etwas direkteren und unverschleierten Zeilen in dem berühmten Refrain: Es ist ein Loch im Zaun von Gaustad, es ist ein Loch im Zaun von Gaustad, es ist ein Loch im Zaun von Gaustad, und deshalb bist du hier.
    Nutte! Nutteputtewichsfotze!
    Aus dieser kleinen Anekdote kann man zumindest erkennen, dass Camouflage auf die Dauer nichts nützt, ich musste mich bitte schön mit meinem beschmierten Konterfei arrangieren, mein Alter Ego gab es nicht; wie schon allein der Versuch, sich zu verbergen, neuen Verdacht erwecken kann, der dich nur auf andere Art und Weise bloßstellt. Das galt sowohl für Mutter als auch für mich. Und somit war auch Vater auf eine äußerst unglückliche Art darin verwickelt. Zwar konnte er mit dem Gerücht, dass er eine gewisse Anzahl an Hausmädchen auf den Rücken gelegt und dann rausgeworfen hatte, leben, ja, er konnte gut damit leben, aber die Wahrheit, dass Mutter es mit ihnen getrieben hatte, die war unerträglich. Und nicht zuletzt: Ich befand mich auf der falschen Seite des Zauns von Gaustad, nämlich innen.
    Außerdem sollte ich Folgendes lernen: dass ein Loch nicht immer in beide Richtungen weist.
    Deshalb war ich hier.
    Als ich nämlich versuchte, mich zurückzuzwängen, gelang es mir nicht. Das Loch war zu eng. Ich kam nicht durch. Das war ein Mysterium. Es war dasselbe Loch. Ich war derselbe. Aber es war unmöglich. Dass ich den Mantel auszog, nützte nichts. Einen Moment lang fürchtete ich gar, festzusitzen und nicht wieder freizukommen, weder in die eine noch in die andere Richtung. Doch schließlich konnte ich mich befreien, aber über den Zaun zu klettern, das schaffte ich auch nicht, denn meine verfrorenen Finger rutschten jedes Mal ab, und ich glitt die rauen splittrigen Holzplanken hinunter und blieb schließlich in dem kalten, steifen Gras auf dem Rücken liegen.
    Der erste Schnee fiel.
    Es schien, als würde der Himmel zerfallen, und der Himmelsstaub war weiß.
    Oh, vanitas vanitatum!
    Langsam stand ich auf und ging los, ging ebenso langsam auf die Gebäude zu. Alles schien leer und tot. Ich sah nicht einen Menschen, nicht eine lebende Seele. Als ich näher kam, konnte ich die Gitter vor den dunklen Fenstern erkennen, Sprossen und Kreuze aus Eisen. Der Schnee war schwer. Ich suchte Schutz in den Bogengängen. Hier hallten meine Schritte wider, ein Echo, das zwischen den Balustraden in alle Richtungen geworfen wurde, als folgte mir ein ganzes Regiment. Ein Schild zeigte hierhin und dorthin: Station für die Ruhigen und Anständigen. Station für die Lärmenden und Gewalttätigen. Station für die in Unreinheit und Unzucht versunkenen Kranken. Wohin sollte ich? Wo gehörte ich hin? Ich blieb vor der ersten Tür stehen. Die leeren Hoden deiner kastrierten Engel! Hängepimmel! Ich legte die Hand auf die Tür und schob sie von mir. In dem Moment hörte ich andere, merkwürdige Geräusche, eine fremde, und doch menschliche Musik: Lamentieren, Jammern, Rufe, Weinen, Ungehörigkeiten und Gelächter, über das es nichts zu lachen gab. Plötzlich stand eine Frau vor mir. Sie war fast so breit wie die Türöffnung, trug einen langen Kittel, auf die Brust war der Name des Irrenhauses genäht, und er hatte tiefe Taschen, in denen sie ihre Hände verstecken konnte. Sie schien wütend und entschlossen zu sein. War das eine Ärztin oder eine Aufpasserin? Konnte überhaupt eine Frau Ärztin in Gaustad sein? Auf jeden Fall war sie groß genug, um eine Aufsichtsperson zu sein.
    »Was machst du hier?«
    »Nichts. Ich …«
    Die Frau unterbrach mich.
    »Wie hast du die Tür aufgekriegt?«
    Ich trat einen Schritt zurück, sicherheitshalber, damit ich schnell abhauen konnte.
    »Sie war offen.«
    Die Frau kam mir nach.
    »Offen. Ach was. Die Tür ist abgeschlossen!«
    »Aber das stimmt. Sie war offen.«
    Sie zog eine Hand heraus und hielt darin einen riesigen Schlüsselbund.
    »Ich bin diejenige, die hier die Türen abschließt. Und ich bin es auch, die sie wieder öffnet!«
    »Ach so«, flüsterte ich.
    Die Frau lächelte und hob die Hand zu meinem

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