Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman
immer wieder von neuem anfangen muss. Die ganze Zeit muss ich neu anfangen. Ich zähle schneller und schneller, um die Äpfel einzuholen, es ist unmöglich, aber ich muss es schaffen, und wenn ich hier beim Baum stehen bleibe, bis dieser leer ist und das Gras voll. Da höre ich die Räder der Kutsche, Alfreds Peitsche und Hammers Wiehern, die näher kommen, schneller als ich zählen kann, und ich bin immer noch nicht fertig. Ich schaffe es nicht. Ich gebe auf. Doch in der Sprache der Kantigen gibt es den Begriff Aufgeben nicht, das heißt anders, und ich sinke auf die Knie nieder und fange stattdessen an zu heulen, und in dem Moment kommt Vater und zieht mich wieder auf die Füße hoch.
»Erwartest du Regen?«, fragt er.
Ich ziehe den Macintosh zurecht, knöpfe ihn zu, verlegen und peinlich berührt.
»Nur sicherheitshalber«, sage ich.
»Das ist gut. Immer vorbereitet sein. Auf jeden Fall. Wenn es nicht regnet, kannst du ihn ja einfach ausziehen. Hast du dir wehgetan?«
»Mir wehgetan?«
»Ja. Bist du nicht hingefallen? Du hast doch auf der Erde gelegen.«
»Ich habe mir nicht wehgetan.«
»Übrigens, du bist ja ein Ass im Zählen.«
Ich schaue weg, zu Alfred, der Hammer mit Karotten füttert und ihm mit langsamen, zärtlichen Bewegungen über das Maul streichelt.
»Danke, Vater.«
Mein Vater seinerseits erscheint aufgeregt, nicht wütend, sondern begeistert auf eine fast gefährliche Art und Weise, sein Gesicht steht in Flammen, und er schaut zum Pavillon hinüber, wo der runde Tisch immer noch voller leerer Flaschen und Gläser ist.
»Dieses verfluchte Fallobst! Ich bin auf ihm auch schon einmal ausgerutscht.«
Und plötzlich hebt er einen Apfel vom Gras auf, weich und braun, und zeigt ihn mir.
»Siehst du, was das ist, Bernhard?«
»Ja, Vater. Ein verrotteter Apfel.«
»Was ist der Unterschied zwischen einem verrotteten und einem frischen Apfel?«
»Ein frischer Apfel schmeckt besser.«
Vater kommt näher.
»Woher weißt du das?«
Ich denke nach.
»Ich weiß es nicht«, antworte ich schließlich.
»Willst du probieren?«
Vater drückt mir fast den kranken Apfel ins Gesicht.
»Nein, danke.«
Vater lacht.
»Genau. Frische Äpfel hängen hoch. Verrottete Äpfel liegen dir direkt zu Füßen. Das ist der Unterschied.«
Und dann drückt Vater den verrotteten Apfel in seiner Hand zusammen, und zwischen seinen Fingern sickert eine braune Soße heraus, zusammen mit Würmern und Larven.
»So«, sagt er.
Er sagt nur dieses Wort, als hätte er mir damit etwas Wichtiges beigebracht. So.
Er schüttelt den Matsch von den Fingern und wischt sich die Hand im Taschentuch ab.
»Wo ist Mutter?«
Ich zögere.
»Mutter schläft.«
Vater wirft einen Blick zu ihrem Schlafzimmer hoch, in dem immer noch die dicken blauen Vorhänge vorgezogen sind.
»Komm«, sagt er.
Aber plötzlich ist es Vater, der zögert, und er sieht mich stattdessen genauer an.
»Bist du auch mitten am Tag müde, Bernhard?«
»Nein. Wieso?«
»Du hast schwarze Ringe unter den Augen.«
Wir gehen zur Kutsche und setzen uns hinter Alfred und lassen uns in die Stadt, Kristiania, tragen, die glänzend und klar auf dem Grund der Welt liegt. Es sind Herbstferien, die Bauern von Gaustad stehen auf ihren Äckern und zupfen Unkraut, die Schüsse der Jäger sind aus den brennenden Wäldern zu hören, bis nach Stryken oder Katnosa. Vater geht nicht mehr auf die Jagd. Der Waffenschrank ist verschlossen. Er hat andere Trophäen in Sicht. Wir fahren durch Majorstuen und weiter den Kirkeveien entlang, am Frognerpark vorbei, wo die Vorbereitungen für die Weltausstellung stattfinden. Ist der Himmel etwa nicht wolkenfrei?
»Wohin fahren wir?«, frage ich.
Vater legt mir den Arm um die Schulter.
»Abwarten«, sagt er.
Und wir halten erst, als wir in Skøyen ankommen, vor A/S Auto, wo zwei Männer in ihrem feinsten Zwirn sich vor ein glänzendes Auto gestellt haben. Andere Schaulustige wollen auch dabei sein und rücken näher, Tratschtanten, Briefträger, Zeitungsjungen, Klosettreiniger, Hausierer und Volontäre, denn niemand möchte sich dieses Wunder entgehen lassen. Vater springt hinunter, ich habe ihn noch nie so energisch gesehen, er begrüßt die Männer lange per Handschlag, diese nehmen ihre Hüte ab und verneigen sich. Und erst nach einer Weile begreife ich, dass das Vaters Auto ist. Er hat es gekauft und bezahlt. Es ist unser Auto, das Auto der Familie Hval. Ich springe auch hinaus, hinter Vater her, der langsam um den Wagen herum
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