Die Unschuld der Rose
deinen Schoß kuschelt.“ Nachdem das erledigt war, gewann sein Zorn wieder die Oberhand. „Sie hätte allerdings giftig sein können, Grace!“ Er zog sie auf die Füße und schaute sie aus vor Wut blitzenden Augen an. „Das hier ist der Regenwald, nicht die Bond Street. Hier geht man nicht mal eben so spazieren.“
„Ich weiß das.“
„Was zum Teufel hast du dir dann dabei gedacht?“ Er hatte gerade eine Schlange von ihrem Hals vertrieben. Warum klammerte Grace sich eigentlich nicht ängstlich an ihn oder schrie hysterisch? Sie verhielt sich so undurchschaubar, wie er es noch nie bei einer Frau erlebt hatte.
„Ich habe die falsche Abzweigung genommen.“
„Wie konnte das passieren? So kompliziert ist der Weg nicht.“
Das Blut schoss ihr in die Wangen. „Ich … ich war in Gedanken woanders und habe rechts und links verwechselt.“
„Du hast was?“ Er schüttelte den Kopf und gab sich keine Mühe, den Ärger zurückzuhalten. „Hier draußen kann ein solcher Fehler den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten. Ist dir das nicht klar? Bist du so dumm?“
Er spürte, wie sie sich versteifte. Sie trat einen Schritt zurück und hob den Kopf.
Etwas schimmerte in ihren Augen. Tränen? Wut? Er war sich nicht sicher.
„Nenn mich nie wieder dumm.“ Ihre Stimme klang heiser und rau vor Schmerz. „Ich bin falsch abgebogen. Und ich weiß, dass es gefährlich ist, sich im Regenwald zu verirren, aber ich bin nicht dumm.“
Verblüfft darüber, dass ein einzelnes Wort eine heftigere Reaktion auslöste als eine riesige Schlange, ließ er die Schultern sinken.
„Warum hast du dann den falschen Weg genommen?“
Sie zögerte einen Moment. „Weil ich rechts und links immer verwechsle.“
„Wieso das denn?“, fragte er verständnislos.
„Ich bin Legasthenikerin.“
Er sah sie entgeistert an. Legasthenikerin? Rafael brauchte einen Moment, um sein Gedächtnis nach diesem Begriff zu durchforsten. „Du meinst, du kannst nicht lesen?“
„Nein, tatsächlich kann ich sehr gut lesen. Ich habe Probleme mit Richtungen, und mit Zahlen komme ich überhaupt nicht klar.“
Erstaunt über ihr Geständnis, versuchte er, die sich daraus ergebenden Konsequenzen zu überschauen. „Du kannst keine Zahlen lesen und leitest trotzdem deine eigene Firma?“
„Viele Legastheniker sind äußerst erfolgreiche Geschäftsleute. Mein Vater ist für die Buchhaltung zuständig. Ich kann mich um alles andere kümmern, solange es nichts mit Zahlen zu tun hat. Zahlen verwirren mich.“
Plötzlich ergab alles einen Sinn.
Sie war nicht naiv, auch nicht dumm, sie konnte nur keine Zahlen lesen.
Seine Miene verfinsterte sich, und er griff nach Grace’ Handgelenk. „Komm mit.“
„Wohin gehen wir?“
„Zurück zum Haus. Dort werde ich dir endlich die richtigen Fragen stellen.“
„Meine Zahlenschwäche ist nicht wichtig. Und ich will nicht, dass du mich anders behandelst, weil …“
„Grace …“ Er zog sie an sich und sah sie wütend an. „Tu mir einen Gefallen und lass mich entscheiden, was wichtig ist. Dieses Mal will ich alles wissen. Und ich meine wirklich alles. Wenn es etwas gibt, von dem du denkst, ich will oder brauche es nicht zu wissen, dann interessiert mich vor allem das.“
Wieder stand Grace in seinem Büro und lauschte dem endlosen Klingeln der Telefone. Hat denselben Effekt wie ein störendes Insekt, dachte sie benommen. Rafael mochte sich im Regenwald verstecken, doch die Welt ließ ihn nicht in Ruhe.
Allerdings hegte er ganz offensichtlich nicht die Absicht, mit jemandem zu sprechen. Er hob einen Hörer ab und erteilte in knappen Worten die Anweisung, bis auf Weiteres keine Anrufe mehr durchzustellen. Dann richtete Rafael seine Aufmerksamkeit auf sie.
„In Ordnung.“ Er setzte sich auf einen Stuhl und betrachtete sie wachsam. „Ich höre.“
Grace straffte die Schultern. „Was willst du wissen?“
„Alles. Und lass nichts aus.“
Sie atmete tief ein. „Das meiste habe ich dir schon erzählt. Ich hatte die Idee zu diesen Cafés und …“
„Deine Firma interessiert mich nicht. Im Moment weiß ich wahrscheinlich mehr über Café Brazil als du. Über dich will ich alles wissen. Geh zurück in deine Kindheit. Wann hast du gemerkt, dass du Schwierigkeiten mit Zahlen hast?“
Ihr stockte der Atem. Auf einmal wurden all die Gefühle wieder lebendig, die sie jahrelang verdrängt hatte. „Es ist wirklich nicht wichtig und …“
„Nicht wichtig?“ Seine Stimme nahm einen gefährlich
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