Die Unschuld der Rose
wollte etwas Gutes und Sinnvolles mit meinem Leben anfangen. Mein Vater sagte, er würde mir helfen.“ Sie wandte sich ab, ging zum Fenster hinüber und blickte, ohne wirklich etwas zu sehen, in den Regenwald hinaus. „Wahrscheinlich hat er endlich einen Weg gefunden, mich von einer Enttäuschung in einen Vorteil zu verwandeln. Ich hätte es nie herausgefunden.“
„Was willst du jetzt tun?“
Schreien? Weinen? Jemanden schlagen? Sich in ein tiefes Loch fallen lassen und niemals wieder hervorkommen? „Ich weiß es nicht. Ihn konfrontieren.“ Sie seufzte. „Ich war ziemlich dumm.“
„Nein“, widersprach er heftig. „Ich erkenne jetzt, dass du eine faszinierende Vision gehabt hast. Und du kannst hart arbeiten. Dabei zahlst du dir ein kaum nennenswertes Gehalt.“
„Geld interessiert mich nicht“, entgegnete sie verständnislos.
„Was interessiert dich dann, Grace?“
„Mich selbst zu beweisen.“ Sie schlang sich die Arme um die Taille. „Ich bin damit aufgewachsen, dass jeder überzeugt war, ich würde es nie zu etwas bringen.“
„Wer hat dir das gesagt?“
„Alle. Meine Lehrer. Mein Vater. Weißt du, wie sich das anfühlt?“ Ihr Blick streifte die harten Linien seines Gesichts. Dann dachte sie an seinen despotischen Führungsstil. Grace ahnte, dass gerade dieser Mann absolut keine Ahnung hatte, wovon sie sprach.
„Warum haben sie dir das eingeredet? Wegen deiner Zahlenschwäche? Die Schulen sind doch heutzutage in der Lage, schwächere Schüler in speziellen Kursen zu fördern.“
„Meine nicht.“ Sie lachte und drehte sich um, weil sie die Frage in seinen Augen nicht ertrug. „Am Anfang hielten sie mich für ungezogen und dumm.“ Sie hob den Kopf und blinzelte die Tränen zurück. „Ich hasse es, darüber zu sprechen.“
Rafael stand auf, ging zu ihr und zwang sie, ihn anzusehen. „Dieses Mal wirst du mir alles erzählen.“
„Was willst du denn noch wissen? Dass ich in der Schule langsamer als die anderen war? Die Lehrer waren sehr ungeduldig mit mir. Mein Vater …“ Sie unterbrach sich, die Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst.
„Was ist mit deinem Vater?“
„Es war schwierig für ihn“, fuhr sie leise fort und entzog sich seiner Nähe. „Er wollte immer einen Sohn haben, der die Firma übernehmen konnte. Und dann bekam er ein Mädchen, das nicht einmal die einfachsten Rechenaufgaben bewältigte.“
„Wer hat dann die richtige Diagnose gestellt?“, fragte er. Seine Stimme klang zornig. Unglücklich sah Grace ihn an. Er hatte einen guten Grund, wütend zu sein.
Schließlich hatte sie ihm nicht die Wahrheit über sich gesagt.
Sie hatte seinen Kredit genommen, ohne ihre Fähigkeiten ehrlich darzustellen – oder den Mangel daran.
„Eine neue Lehrerin kam an die Schule. Sie war ein wenig progressiver und hatte Erfahrungen mit legasthenischen Kindern. Sie schöpfte sofort Verdacht und arrangierte einen Test für mich.“ Grace zuckte die Schultern. „Rückblickend hat sie mir das Leben gerettet. Sie verbrachte Stunden damit, mir zu helfen. Und sie zeigte mir Wege, mit meinem Problem umzugehen. Um mich zu bestärken, wies sie mich oft darauf hin, was ich konnte. Unnachgiebig überzeugte sie mich davon, dass ich nicht dumm bin. Aber das Wichtigste, was ich von ihr gelernt habe, ist, niemals aufzugeben.“
Rafael rieb sich den Nacken und schloss für einen Moment die Augen. „Und dir ist nie in den Sinn gekommen, es mir früher zu sagen?“
„Du hast mir nur zehn Minuten gegeben.“ Der Versuch, einen Scherz zu machen, misslang. Wieder seufzte Grace. „Nein. Ich will mein Leben nach denselben Regeln wie alle anderen auch leben. Ich will keine Sonderbehandlung.“
„Du hast es nicht erwähnt, als du den Kredit bekommen hast.“
„Hätte ich es gesagt, hätte ich das Geld nicht bekommen.“
„Das ist nicht wahr.“
„Doch. Du hättest geglaubt, ich wäre nicht in der Lage, eine Firma zu leiten …“, sie schluckte, „… und damit hättest du recht gehabt. Jetzt sehe ich das ein. Ich dachte, ich könne ein Unternehmen managen, wenn ich nur Hilfe von den richtigen Leuten bekäme. Aber wenn ich nicht einmal meiner eigenen Familie vertrauen kann, wem dann?“
„Ich bin nicht qualifiziert, diese Frage zu beantworten. Denn meiner Erfahrung nach kann man niemandem vertrauen – am allerwenigsten der eigenen Familie.“
„Versucht deine Familie auch, dich auszunehmen?“
„Ich habe keine Familie.“ Ein Muskel an seiner Wange zuckte. Ein
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