Die Unschuld der Rose
nicht?
Saß Rafael wieder wie gebannt vor seinem Monitor und bemerkte gar nicht, dass sie verschwunden war?
Es ergab einfach keinen Sinn.
Mit wachsender Frustration ließ Rafael den Telefonhörer auf die Gabel fallen und blickte aus dem Fenster. Die Lippen hatte er zu einer schmalen Linie zusammengepresst.
Was nun?
Er hatte eine Stunde am Telefon verbracht. Sechzig Minuten, die zur ärgerlichsten und verwirrendsten Zeit seines Lebens wurden. Anstatt Antworten zu liefern, warfen die Gespräche immer neue Fragen auf. Die Manipulation der Firmenkonten reichte tiefer, als er anfangs geglaubt hatte.
Nur eines stand mittlerweile unumstößlich fest: Grace Thacker hatte das Geld nicht genommen.
Und das bedeutete, sie hatte die ganze Zeit über die Wahrheit gesagt.
Grace war keine perfekte Schauspielerin, nur erstaunlich naiv. Er konnte unmöglich nachvollziehen, wie ihr die Diskrepanzen in den Büchern hatten entgehen können. Sie war jung, aber sie leitete ein Unternehmen. Weshalb war sie nicht misstrauisch geworden? Hatte sie nie nachgesehen?
Schließlich beugte er sich vor, drückte einen Knopf an seinem Telefon und wartete, bis Maria erschien.
„Bitten Sie Miss Thacker zu mir“, sagte er auf Portugiesisch, währender mit den Fingern ungeduldig auf den Schreibtisch trommelte. Sie kannte die Antworten, die er brauchte, da war Rafael sich sicher. Bislang hatte er nur die falschen Fragen gestellt.
„Miss Thacker ist in den Wald gegangen.“
Rotkäppchen, das vor dem bösen Wolf weglief.
„Zum Schwimmen?“
Maria schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, dass sie einen Badeanzug dabeihatte.“ Die Haushälterin zögerte. „Sie schien ziemlich aufgewühlt zu sein.“
Fluchend sprang er auf. „Wann war das?“
„Vor ungefähr einer halben Stunde.“
Lange genug, um sich ernsthafte Probleme einzuhandeln. Was war nur in sie gefahren? Wie hatte sie einfach so in den Dschungel laufen können?
Aber natürlich kannte Rafael die Antwort. Grace hatte immer wieder ihre Unschuld beteuert, doch er hatte ihr nicht geglaubt. Deshalb war sie weggelaufen.
Weil ich ihr nicht vertraut habe.
Er schob die unnützen Überlegungen beiseite und hastete den alten Dschungelpfad entlang.
Immer wieder rief er ihren Namen und lauschte angestrengt. Keine Antwort. Ein unbehagliches Gefühl stieg in ihm auf, als er an all die Gefahren dachte, die im Regenwald lauerten.
Giftige Spinnen, Schlangen …
Dann stieß er ein leises bitteres Lachen aus, als er die Wahrheit erkannte. Grace setzte sich lieber den wilden Tieren aus, statt ihm noch einmal zu begegnen. Was sagte das über ihn aus?
Dass er ein Mann war, dem jede anständige Frau aus dem Weg ging? Grace Thacker war anständig. Naiv? Hoffnungslos im Umgang mit Zahlen? Zu jung und unerfahren, um ein Unternehmen zu leiten?
Dieses Mal würde er zuhören, wenn sie etwas sagte. Er würde genau aufpassen und sich rücksichtsvoller benehmen. Denn offensichtlich verfügte sie nicht über die Fähigkeiten, die man brauchte, um in der rauen Geschäftswelt zu überleben.
Aber er hatte sie gewarnt. Von Anfang an hatte er keinen Hehl daraus gemacht, wer er war.
Sie war aus freien Stücken zu ihm gekommen. War es seine Schuld, wenn sie Gefühle vermutete, wo in seinem Innern nur Leere herrschte?
Wer war für diesen Schlamassel verantwortlich?
Er, weil er sich von seinem Zynismus hatte blenden lassen? Oder sie, wenn sie in ihrer Naivität Eigenschaften an ihm erkannte, die er einfach nicht besaß?
Rafael war so versunken in seine düsteren Gedanken, dass er sie beinahe übersehen hätte. Mit bleichem Gesicht saß sie auf einem umgestürzten Baumstamm.
„Was zur Hölle hast du dir dabei gedacht, in den Dschungel zu laufen?“, stieß er unbeherrscht hervor. Der Vorsatz, sich verständnisvoller zu zeigen, war vergessen. Die Erleichterung, Grace unversehrt wiedergefunden zu haben, überwältigte Rafael.
„Rafael …“ Sichtlich erschrocken, wollte sie aufstehen, hielt jedoch abrupt inne. Denn er beobachtete etwas über ihr und tastete mit einer Hand nach dem Stock, den er im Gürtel trug.
„Beweg dich nicht!“
Er sah, wie sie die Arme kreuzte, aber nicht widersprach. Rafael trat einen Schritt vor und schob ihr die schwarz-gelbe Schlange mit dem Stock von der Schulter.
Erschrocken sah sie dem exotischen Reptil nach, das sich nun einen Baum hinaufwand. „War sie giftig?“
„Nein. Ich dachte nur, du möchtest vielleicht nicht, dass sich eine drei Meter lange Schlange in
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