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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pregel
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lächelte zufrieden.
    »Warum?«
    »Na ja, die Genitalien sind doch die Quelle für Lust und Schmerz auf diesen Bildern, wie sie sich eben besonders in den Gesichtern ausdrücken. Außerdem bezieht sich das ganze Handeln der Personen in den Bildern auf die Genitalien. Aber auf einmal sind sie nicht mehr da. Sie sind … Hast du sie nachträglich herausgeschnitten?«
    »Ja, ich habe sie mit einem kreisrunden Schnitt entfernt. Allerdings bin ich mir noch nicht ganz sicher, ob ich das wirklich so beibehalten werde. Ich spiele auch noch mit dem Gedanken, zumindest die Gesichter nur durch einen schwarzen Balken über den Augen unkenntlich zu machen, wie man es vom Fernsehen her kennt oder aus der Zeitung, wenn die Identität einer abgebildeten Person verschleiert wird. Sobald ich mir darüber eine echte Meinung gebildet habe, fange ich wirklich an zu malen.«
    »Ich find’s toll«, sagte Hannes und schaute mich mit ehrlicher Bewunderung an. »Mir wird heiß und kalt, wenn ich das sehe und mir vorzustellen versuche, wie die fertige Serie aussehen wird.«
    »So soll es auch sein«, antwortete ich und bedankte mich mit einem Kuss.
    Hannes erwiderte ihn kaum, er war stattdessen schon wieder völlig von meiner Arbeit gefangen und ließ sich nur mit Mühe zurück in mein Bett ziehen.
    Eine heftige Niesattacke reißt mich aus meinen Gedanken, meine Nase läuft, mein Hals kratzt. Meine Laune sinkt zurück in den Keller. Immerhin ist Land in Sicht, Festland. Bald bin ich wieder in Berlin, dann kann ich die restliche Wartezeit bis zum Montag mit Malen verbringen. Meine neue Serie gedeiht wunderbar, genau so, wie ich sie mir vorgestellt habe. Warum bin ich nur weggefahren? Ich hätte mich zum Arbeiten zwingen sollen, das wäre viel besser gewesen. Dann müsste ich mich jetzt immerhin nicht mit dieser Erkältung rumschlagen, die sich vielleicht bald schon zu einem Albtraum auswachsen wird. Den aber kann ich mir nicht leisten, ich muss doch arbeiten! Ich habe ein Werk zu vollbringen, habe keine Zeit für Krankheit, für Ärzte, für die mannigfachen Nebenwirkungen der Medikamente, vielleicht sogar für ein langwieriges Sterben. Ich muss arbeiten – ich will arbeiten!
    Unter der folgenden Woche sahen wir uns gar nicht; ich wollte unbedingt arbeiten, er musste zur Schule, immerhin hatte für ihn das wichtige, die Weichen für die Zukunft stellende letzte Schuljahr begonnen. Die ersten beiden Tage telefonierten wir nicht einmal miteinander, erst am Mittwoch kam ein erneutes Gespräch zustande. Er rief an und atmete hörbar erleichtert auf, dass ich schon nach so kurzem Klingeln abnahm. Wieder wirkte er vor lauter Unerfahrenheit unbeholfen und dadurch so süß, wie er da versuchte, sich sein Glück nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Das musste ich doch belohnen! Davon wollte ich mehr. Ich lud ihn für den kommenden Freitagabend für acht Uhr zu mir ein, und er stand auf die Sekunde pünktlich auf der Matte. Die Tür war noch gar nicht ganz hinter ihm ins Schloss gefallen, da zerrten wir uns schon die Kleider vom Leib. Als wären wir zwei ausgehungerte Wölfe, die in Ermangelung anderer Nahrung übereinander herfielen. Wir hatten unseren Spaß, es war wunderschön.
    Die nächsten zwei Tage blieben wir nahezu komplett nackt im Bett. Nur einmal gingen wir für eine halbe Stunde nach draußen, um in einem asiatischen Imbiss wenigstens eine warme Mahlzeit zu uns zu nehmen. So gestärkt konnten wir uns in eine weitere Liebesnacht stürzen. Als der nächste Morgen kam und uns spät weckte, mich später als Hannes, war es schon wieder Sonntag. Hannes saß an die Kopfstütze meines Bettes gelehnt und schien mein Schlafen beobachtet zu haben, als hätte er auf mein Erwachen gewartet. Die Decke reichte ihm nur bis zum Bauchnabel, darüber präsentierte sich mir seine bloße, für sein junges Alter schon recht stark behaarte Brust. Es sah zum Anbeißen aus, und das tat ich dann auch.
    Diesen Rhythmus behielten wir die nächsten gut zwei Monate bei: Unter der Woche sahen wir uns kaum bis gar nicht, am Wochenende rund achtundvierzig Stunden am Stück. Hannes versuchte nur ein einziges Mal, darüber zu diskutieren.
    »Können wir uns nicht öfter sehen?«, fragte er. »Ich muss ja nicht unbedingt bei dir übernachten, aber die Abende können wir doch trotzdem miteinander verbringen.«
    »Ich arbeite aber gerade abends …«, antwortete ich kopfschüttelnd und in dem guten Gefühl, wenigstens dieses eine Mal nicht zu lügen. Es stimmte nämlich, ich

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