Die unsicherste aller Tageszeiten
Hannes? Wenn man es genau nahm, gehörte er längst eingereiht in diese Galerie. Und dennoch wehrte sich etwas ganz entschieden in mir dagegen, zwei Dinge sogar, um genau zu sein. Zum einen war er auf die Idee gekommen und hatte sie mir unterbreitet – das empfand ich als einen Eingriff in meine Autonomie als Künstler und weckte meine Eifersucht. Wäre ich selbst darauf gekommen, hätte die Sache vermutlich gleich ganz anders ausgesehen. Obwohl ich Hannes dann eher nichts davon erzählt, sondern ihn einfach still und leise gemalt und verstümmelt hätte, ohne dass er mir dafür Modell hätte sitzen müssen. Zum anderen fühlte ich mich wohl damit, wie die Dinge zwischen uns arrangiert waren. Diese Wochenendbeziehung war einfach ideal für mich, ich konnte arbeiten und vögeln, und zwar beides so ausgiebig, wie ich es gerade brauchte. An diesem Gleichgewicht der Kräfte und Säfte wollte ich nichts ändern. Die Schmetterlinge in meinem Bauch flatterten lebendiger und lang anhaltender, wenn ich vor der Staffelei stand, und allein deshalb schon wollte ich mehr Zeit in meinem Atelier verbringen als mit Hannes. Hannes aber, das wurde immer offensichtlicher, sehnte sich nach mehr. Endlich also – wieder einmal nach nur rund drei Monaten – wurde deutlich, dass sich unsere Vorstellungen von unserem Zusammensein so grundsätzlich unterschieden, dass die Katastrophe absehbar wurde. Wenige Wochen noch und sie ließen sich überhaupt nicht mehr miteinander vereinbaren. Dann würde es zum Krach kommen, zum Streit, zu dramatischen, tränenreichen Szenen seinerseits, während ich mit Sicherheit nur den verlorenen Arbeitsstunden hinterherjammern würde. Wollte ich das? War es das wert? Nein und nein. Da war es humaner, gleich Schluss zu machen. Mit jeder weiteren Woche, die verstrich, würde er sich abhängiger von mir fühlen, mehr auf meine Zuneigung und Liebe angewiesen, und umso größer wäre dann seine Enttäuschung und Verletzung. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende, dachte ich mir.
Trotzdem brauchte ich zwei ganze Wochen, um mich dazu durchzuringen. Zwei Wochen, in denen ich Hannes komplett ignorierte, nicht ans Telefon ging, wenn er anrief, schon gar nicht zurückrief, mochte er auch noch so sehr darum bitten, und ihm erst recht nicht die Tür öffnete, als er eines Abends in der erwarteten Verzweiflung davorstand. Ich verleugnete mich, indem ich mich in mein Atelier zurückzog, wo weder Klingeln noch Klopfen zu hören sind. Stattdessen sprach ich mit Klaus. Weshalb ich genau anrief, wollte ich ihm gar nicht mal sagen, ich gestand mir ja selbst nicht wirklich ein, mir bei ihm Rückendeckung für mein Vorhaben holen zu wollen. Ausgerechnet bei Klaus, den ich ebenfalls Hals über Kopf verlassen hatte, ohne ihm bis heute die Wahrheit gesagt zu haben, warum. Aber ich hatte sonst einfach niemanden, mit dem ich darüber hätte sprechen können.
Klaus begrüßte mich mit der herzlichen Überraschung, wie schön es sei, dass ich ihn mal anriefe.
»Ja, nicht wahr?!«, sprudelte ich sofort los wie ein frisch von einer Rohrverstopfung befreiter Wasserspeier. »Ich muss einfach mal mit jemandem reden. Ich hab nämlich endlich mit einer neuen Bilderserie begonnen und weiß gerade nicht, wohin mit meinem Überschwang.«
«Wirklich? Na dann: Erzähl!«
Ich redete bald eine Viertelstunde ohne Punkt und Komma, darüber, was ich gerade malte und wie ich dazu gekommen war. Ich verlor mich regelrecht in meinen Schilderungen, bis ich plötzlich merkte, dass ich mich der Tatsache, auch ehemalige Liebhaber in die Bilder einzuarbeiten, bedenklich angenähert hatte, näher, als ich dies jemals hatte tun wollen. Das hätte mein Geheimnis bleiben sollen, mein Künstlergeheimnis. Und nun hatte ich es fast schon ausgesprochen. Mein Redeschwall brach so plötzlich und unerwartet ab, dass danach an beiden Enden der Leitung erst einmal erschrockene beziehungsweise ratlose Stille herrschte. Selbst mein Gehörsinn schien für einige Zeit ausgesetzt zu haben, denn als ich aus meiner Schockstarre wieder zu mir kam, hörte ich Klaus nur ein ums andere Mal meinen Namen rufen.
»Was ist denn los?«, fragte er, als ich endlich wieder reagierte.
Da erzählte ich ihm ebenso atemlos wie zuvor die ganze Geschichte mit Hannes, einschließlich meines Vorhabens, mich von ihm wieder zu trennen.
»Wenn die Dinge so liegen«, erwiderte Klaus darauf nur, »dann tu es einfach.«
»Und wie?«
»Sei so ehrlich zu ihm, wie du es gerade zu
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