Die unsicherste aller Tageszeiten
harten Sitz aus geflochtenem Metall herum. »Der Junge hat einfach kein sitten Mors«, hat meine Oma Mimi immer gesagt, wenn ich mich wenigstens darum bemühte, artig auf etwas Versprochenes zu warten und mir der Zappelphilipp wie ein böser kleiner Dämon in allen Gliedern saß. Sie belohnte meine Bemühungen dann immer mit einem herzlichen Lächeln und einem Keks, mit dem sich der Ungeist in mir tatsächlich auch für ein paar längere Augenblicke beruhigen ließ. Meine Oma ist aber seit vielen, vielen Jahren tot, und Kekse habe ich auch nicht dabei. Ich habe gar nichts und soll damit leere Zeit füllen. Nicht einmal meine Mutter kann ich von hier aus anrufen, zu verräterisch wäre es, müsste ich ihr erzählen, dass ich gerade in Dagebüll bin.
Auch ihr hatte ich das Märchen aufgetischt, ich hätte nach dem Trennungsgespräch mit Hannes meinerseits erst einmal jeden Kontakt zu ihm abgebrochen, damit er Gelegenheit bekäme, seine Fassung zurückzugewinnen. So wollte ich auch nach dem Bruch mit Michael, Robert, Mark, Thomas, Ralf, Jens, Mario, Ronni und Ivan gehandelt haben, und teilweise stimmte das auch. Trotzdem habe ich keinen von ihnen jemals wiedergesehen, von der einen oder anderen zufälligen Begegnung in der Szene einmal abgesehen. Im Grunde genommen war ich froh, dass sie aus meinem Leben wieder verschwunden waren, die Scherereien, die so eine Trennung immer verursacht, hatten mich in jedem einzelnen Fall davon überzeugt, lieber nichts mehr mit ihnen zu tun haben zu wollen, mit keinem von ihnen. Sie entpuppten sich alle als mindestens ebenso unreif wie ich, und das war keine gesunde Kombination. Nur Klaus war nicht so gewesen, der hatte mich nicht zuletzt deshalb so angezogen, weil er erwachsen auf mich gewirkt hatte, so selbst- wie verantwortungsbewusst, ohne dabei gleich wieder ein langweiliger Spießer zu sein. Seine Ernsthaftigkeit ist niemals humorlos, sein Humor nicht ohne diese gewisse Schwere, die sich aus einem ganzen Berg von Lebenserfahrung bar jeder Bitterkeit speist. Und er ist nicht nur Geist, er ist auch verdammt viel Körper. Mehr will ich doch gar nicht.
Aber dann kommt dieser Hannes, den ich aufgrund seiner Jugend, seines sexuellen Appetits völlig falsch eingeschätzt habe. Wie sich am Ende gezeigt hat, steckt ihm weit mehr Verantwortungsbewusstsein im Leib als mir und all meinen vorherigen Liebhabern, Klaus natürlich ausgenommen, zusammen. Das habe ich nur nicht gesehen. Bis er es mir auf die harte Tour bewiesen hat. Bis er sagte, er würde nun den Test machen müssen, nachdem er sich von mir dazu hatte verführen lassen, mit mir, der alten Virenschleuder vom Dienst, ungeschützten Geschlechtsverkehr zu haben. Da hatte er mir vertraut, und das war seine einzige Dummheit gewesen. Er sagte, er hätte Angst davor – ich aber hatte noch viel größere Angst vor dem Ergebnis, vor seinem Ergebnis. Meiner Mutter hatte ich das Märchen aufgetischt, meinerseits bis auf Weiteres jedweden Kontakt zu Hannes abgebrochen zu haben, in Wahrheit war er es, der sich weigerte, mit mir zu sprechen.
Warum hatte ich mich seit Dienstag so elend gefühlt und war am Freitag dann so richtig tief in ein Loch gestürzt, aus dem ich mich nur mit einem anonymen Schnellfick auf der Toilette des
Schwuz
wieder herausziehen zu können glaubte? Leider nicht wegen eines schlechten Gewissens, ihn mit großer Wahrscheinlichkeit mit dem HI-Virus infiziert zu haben, sondern weil an dem Nachmittag mein Versuch fehlgeschlagen war, ihn davon abzubringen, den Test zu machen. Getrieben von purer Verzweiflung hatte ich bei ihm angerufen, hoffend und bangend, er würde ans Telefon gehen und mir zuhören, sich noch ein letztes Mal von mir um den Finger wickeln lassen. Ich wäre auch zu Zugeständnissen bereit gewesen, ich hätte vermutlich sogar die Trennung wieder rückgängig gemacht. Ich sprach mir bei jedem Tuten gut zu, alles würde schon gut ausgehen, ich …
»Ja, hallo?«
Eine Frauenstimme, die Stimme seiner Mutter. Damit hätte ich nicht gerechnet, die Alte hätte doch noch bei der Arbeit sein sollen.
»Ich … Ja, hallo. Also, ich …«, brach ich mir einen ab, mal wieder völlig aus dem Konzept gebracht, »… ich möchte bitte Hannes sprechen.«
»Und wer spricht da, bitte?«
»Ich bin … Darf ich bitte Hannes sprechen?«
»Sind Sie etwa …«
Ich legte ganz schnell auf. Dann wartete ich den Rest des Tages darauf, er würde vielleicht zurückrufen, neugierig geworden, was ich ihm hätte sagen wollen, von
Weitere Kostenlose Bücher